Warum?

„Warum? Warum? Wie kummscht du jetz uf die Frog? Nach mehr als 50 Joahren!“, indem sie die Frage wiederholte, blickte sie misstrauisch auf ihren Sohn. Sie griff nach der Fernbedienung und machte den Fernseher aus.

„Tou isch jou haint aa nix Kscheides drin, nar die Politik, tes mit tr Revolution, wie’s tamols woar.“

„Tes tät mich halt so richtig intressiere, warum …“, erwiderte Ferdinand.

„Warum, warum?“, fiel sie ihm energisch ins Wort, „weil es halt damols nit so aafach woar, die Entscheidung zu treffe. Kaanr hot sich so richtig auskennt.“

Ferdinand, nahe 50, hatte die Geschichte schon tausendmal gehört und trotzdem fehlten ihm noch manche Einzelheiten, damit das Bild vollständig würde.

Johann, sein Onkel väterlicherseits, war damals 21 und studierte Tierarzt in Budapest. Er war der jüngste und so der einzige in der Familie, der die Möglichkeit hatte zu studieren. Seine Mutter und seine Brüder mussten hart dafür arbeiten, um sein Studium finanzieren zu können. Als Witwe musste sie weniger bezahlen, aber sie konnten noch nicht so richtig Fuß fassen. Sie gingen in den Tagelohn, Arbeit gab es genug, denn ein jeder wusste ja, dass die „Unterbatschkaer“ ehrliche, fleißige, zuverlässige Menschen sind.

„Was haaßt nit auskennt, ihr hen toch aa schun a Radio k‘hat?“, fragte er aufdringlich weiter.

„Schun, awr mir hen ka Zeit khat, newm Radio zu sitze wie du un tei Kindr tes mit airem Computer mache. Tie harche jou nar ihri Musik un welle ’s Lewe genieße“, kam schnell die Antwort von seiner Mutter. „Mir hen misse schaawe, dass mr zu was kumme. Mir hen Weingärte un Feldr g‘pachtet un hen aakfange zu wirtschafte, wie mr’s trham k‘macht hen.“

Ferdinands Großvater väterlicherseits wurde noch im Dezember 1944 nach Russland verschleppt, seine Großmutter – mit vier Kindern verwitwet – gab aber nie die Hoffnung auf, ihn wieder heil zu sehen und vielleicht einmal in den Heimatort, ins gelobte Land, zurückkehren zu können.

„Ja, schun, awr owets henr toch kenne ’s Radio einschalte un Nachrichte harche.“ „Owets, Owets woar ich froh, wenn ich ins Bett kumme bin un vor Müdigkeit bin ich glei einkschlofe. Tes woar tamols anderscht wie jetz. Ihr kumme jou vor Mitternacht nit ins Bett nei! Mir hen misse awr in allre Fruh ufsteh un zu Fuß in tr Weigarte arwede gehn.“

Simon, der zweitälteste unter den vier Söhnen der vaterlosen Familie, ist praktisch in die Rolle des Familienoberhauptes hineingewachsen. Schon damals als 23-jähriger Junge führte er mit seinen Freunden die Rettungskommandos. In Gakowo und Kruschiwl war die Endstation der Jugoslawiendeutschen. Alle wurden in diese zwei Lager zusammengepfercht. Es gab nichts zu essen, Seuchen brachen aus und die Leichen in den Massengräbern vermehrten sich. Simon gelang es oft mit seinem Freund in der Nacht das Lagergelände zu verlassen. Es war nicht weit zur Grenze nach Ungarn. In einem Dorf kannten sie den Pfarrer, der aus ihrer Heimatgemeinde stammte. Sie dienten bei einem Großbauern, kauften sich Lebensmittel und kehrten wieder ins Lager zurück, um die Verwandtschaft zu versorgen bzw. sie über die Grenze zu schmuggeln. Die Wache musste bestochen werden, was damals schon möglich war, so konnten sie auf einmal mit ca. 20-30 Personen abhauen. Vor der Grenze wurden sie oft von räuberischen Rotten überfallen, die wollten ihre allerletzten Wertgegenstände ergattern. Die Männer mussten im bitteren Kampf mit Stöcken bewaffnet die Gruppe verteidigen. Schwarz über die Grenze ins Unbekannte, das aber die Freiheit und den Neubeginn bedeutete. Die Alten haben aber den anstrengenden Fußmarsch in der Nacht nicht geschafft, sie sind oft freiwillig zurückgeblieben und ergaben sich ihrem Schicksal.

„Awr etwas hot mr toch khert, dass ’s Krawalle in Pescht gibt?“

 „Ha jou hemr was kwisst, awr Pest woar weit vun uns un tie Nachrichte woare nit so eindeutig. Mr hot halt k’hert, dass sie k’schosse un Benzinflasche uf die russischi Panzr k’worfe hen.“

In Ungarn fanden sie nach der Flucht bei Großbauern Unterkunft, wo sie als Knechte und Mägde gearbeitet haben. Die Vertreibung der Schwaben aus den Dörfern der Nordbatschka lief schon in vollem Gange. Die Flüchtlinge aus der Südbatschka kamen aber nicht auf die Liste, sie galten ja als Landstreicher, sie hatten kein Haus, keine Felder, kein Geld, kein Vermögen – alles blieb dort unten, die Serben haben alles beschlagnahmt –, es war ihnen nichts mehr wegzunehmen.

„Awr tes henr toch kwisst, dass tr Nagy Imre wiedr Ministrpräsident k‘wore isch.“

„Etwas hemmr schun k‘hert, awr mir hen uns nit stark far die ungarischi Politik interessiert.“

Simon, Ferdinands Vater, schmiedete schon 1946 den Plan, mit den Auszusiedelnden nach Deutschland auszuwandern, aber die Alten wollten das nicht. Seine Mutter hoffte ja noch auf die Wiederkehr des Großvaters aus Russland und endlich gab’s ja hier zum Essen und auch Arbeit genug. Ferdinands Großvater mütterlicherseits weigerte sich weiterzugehen. „Ich hab mei Vatr dort drunte lasse misse, mich bringt ihr vun tou nimi weitr!“ Sein Vater war nämlich krank und schaffte die Flucht über die Grenze nicht mehr, und sonst gehört noch zur Wahrheit, dass Otati ungarisch orientiert war und bei einem Weinhändler gute Arbeit bekommen hat.

Was blieb denn anderes übrig, als hart anzupacken und zu schauen, wie man sich durchsetzen kann.

„Awr tes hennr toch sichr kwist, dass vieli abkhaut sin un iwr die österreichischi Grenz ’s Land vrlosse hen?“

„Mr hot khert, dass manchi Familien uf amoul vrschwunde sin. Tou woar aa a Arzt, a Frauenarzt, ich waaß nimi, wie er k‘haaße hot, ich woar schun im nainte Monet, er hot mich noch unterksucht. Uf amoul woar er awr nimi uf tr Geburtsstation, wie ich zur Kontrolle kange bin. Spätr hot mr’s nar erfahre, dass sie aa nauskange sin.“

Simon musste sich monatlich bei der Polizei melden. 1952 bekam er dann durch die Heirat die Staatsbürgerschaft, die er sich anfangs gar nicht so richtig wünschte. Das Wunder von Bern mit Helmut Rahns Tor begeisterte ihn 1954 vielleicht ein bisschen noch mehr als Puskás’ Dribbeln. Und die Rhetorik der verhassten Kommunisten konnte er auch nicht ertragen. Nachdem das junge Ehepaar einem Neusiedler Abstand gezahlt hatte, konnte die Familie in ein baufälliges rohrbedecktes Bauernhaus einziehen.

„Tamols isch tei Onkl, tr Johann, aus Pescht kumme. Es woar schun finschtr – ich kann mich noch gut erinnre –, es woar a richtiges Sauwettr, es hot kschitt wie nar was. Drin hot’s aa naikregent, Mitte in tr Stub hemr a Lawour hiekstellt und tart hot’s halt in anre Tour tropft. Es woar nit so vornehm wie bei aich! Ka Parkett, ka Bodeheizung, nite moul Leitungswassr un a Badezimmr hemmr khat. Naikregent hot’s, kalt woar’s, awr ‚’s hot halt uns khert, mr hen halt wiedr a eigenes Dach iwr unsrem Kopf khat. Nach tere schreckliche Zeit im Lager und nach tr Flucht. Awr tes kenne ihr jou nimi vrsteh, tes woare damols andri Zeite!“

„Mami, tes will ich toch grad, awr du hosch doch welle vum Johann was vrzähle!“, griff er den Faden wieder auf.

„Ja, es woar Ende Oktowr odr schun Novembr, in tr Nacht hot’s klopft am Fenschtr. Zerscht hemmr welle gar nit ufmache, mr hot jou Ängschte khat. Awr nou hodr k‘rufe: ‚Simon, Klara, mache doch uf, ich bin’s, tr Johann.‘ Nou isch’r reikumme un hot gleich k’frogt: ‚Ja, warum sin’r denn nit zampackt, mr kenne jetzt noch los. Ich kenn a Laschtwage, der fiehrt uns bis zu dr Grenz.‘“

„Ha, tes maan ich jou aa! Was hot eich zruckhalde? Warum sin’r nit loskhaut? Die Kelegenheit woar jou tou!“, reagierte Ferdinand heftig.

„Warum? Ich waaß tes nimi sou richtig, dei Vatr“ – sie blickte auf Simons Foto an der Wand – „kennt vielleicht tie Frog, wenn’r noch lewe tät, bessr beantworte. Ich hab nar deim Onkl ksagt: ‘Kumm nar tou hindri, ich zeig dir was.‘ Nou hab ich’s Tuch wegzoge un k‘sagt:‘Schaa moul, was mr tou hen?‘“

„Warum, was woar dort?“

„Ha, dei Brudr in tr Wiege, er woar tamols vielleicht vier Woche alt. Wie hätte mr uns denn mit anem Naigeborenen uf tr Weg ins Ungewisse k’macht? Tou hemmr wenigschtens wiedr Arwet, zum Esse, a Haus und a Familie k’hat. Na, ja, un die Verantwortung, die Alten zu versorge.“

„Die Alten?“

„Ha jou, die hot mr kenne aa nit tou allaa losse. Tes isch awr schun a alti Gschicht. Tr Herrgott hot schun alli zu sich k’rufe, ich bin allaa k’bliewe und niemand kann uf tei Frog antworte.

Jetz kannsch awr schun geh, hosch mich schun k’sehne un tei Kindr wisse nit, wu solang bleibsch.“

„Soll ich ’s Fernseh aamache?“

„Jou, awr vun tere Politik will ich nix mehr here, geh nar ufs Daitschi, uf tr Sechsr, dort fangt jetz mei Fortsetzung aa, die schaw ich jede Owet.“

2012