Die Entscheidung

Sie hörte noch, wie sich der Haustürschlüssel im Schloss drehte. Einmal, zweimal, dann die schnellen Schritte zum Gartentor. Knirschen beim Aufmachen – wie oft hat sie schon gesagt, dass es geschmiert werden sollte – und dann wieder die gewohnte Stille, allein in ihren vier Wänden, in ihrem treuen Sessel. Sie musste vorerst über die Nachricht in aller Ruhe nachdenken. Überrascht war sie schon.

Was hätte sie denn ihrer Enkelin auf eine solche Frage antworten können? Ihre einzige Freude war, wenn die Enkelkinder sie besucht haben. Sie kamen aber immer seltener, weil die Hauptstadt weit ist und sie dort schon ihr Leben eingerichtet haben. Studium, Arbeit, Freunde und Freundinnen – alles war seinen normalen Lauf gegangen. Sie hatte keine besonderen Pläne mehr, über 80 ist man froh, wenn man den Alltag mit wenig oder gar ohne Hilfe der Kinder bewältigen kann.

Ihre Finger glitten erneut auf die zweite kleine Perle ihres Rosenkranzes, da war sie nämlich durch Ilses Kurzbesuch unterbrochen worden.

Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir, Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus, der in uns die Hoffnung stärke. Heilige…“

Bis zum ersten Gesätz ist sie aber nicht mehr gekommen.

„Ja, tr Junge muss mr a Zukunft kewe, tes woar schun frieher aa so.“

Indem sie mit einem tiefen Seufzer den Satz laut wiederholte, erstarrte ihr Blick und ihre Gedanken weilten wie so oft in der Vergangenheit, an jenem verhängnisvollen Tag, als die Entscheidung getroffen werden musste.

Damals, es war im Sommer 1947, konnte man schon aus dem Lager fliehen, man brauchte nur einen Ortskundigen, der die Leute über die Grenze nach Ungarn bringen konnte, und – was genauso wichtig war – irgendwelche Wertgegenstände, damit die Wachposten bestochen werden konnten.

Sie war mit ihren Eltern und Großeltern im Lager. Ihr Hoffmann Urgroßvater, ein angesehener Bürger des Dorfes, der in seiner aktiven Zeit sogar den Posten des Richters innehatte, war auch noch dabei. Er war aber schon so abgemagert und schwach, dass er nicht mehr laufen konnte. Im Gakowoer Lager gab’s ja außer Kukuruzschrot selten was zum Essen. Sie haben die Flucht trotzdem versucht. Die Männer haben ihm aus einem Strick und aus Leinwand eine Tragbahre gemacht und ihn draufgesetzt, wo er sich festhalten musste. Außerhalb von Gakowo war ein tiefer Graben und dort standen hüben und drüben die serbischen Partisanen, die man mit Ringen und Ohrschmuck bestechen musste. Es gab aber auch solche, die sogar die Kronen von den Zähnen der Leute runtergenommen haben.

Es war noch stockfinster, als sie in der Nähe der Grenze zu Ungarn waren.

„Toni Vettr jetz Vorsicht, jetz darf mr nit schlucksle, schunscht here sie uns“, mahnte der Leiter der Gruppe, aber es war schon zu spät. „Stoj!“, hörten sie und sie waren schon von mehreren bewaffneten Tito-Partisanen umzingelt. Er hat sich vor Ohnmächtigkeit und Angst fallen lassen und wahrscheinlich in demselben Augenblick entschieden, dass er es nicht noch einmal versuchen wird.

Wen interessiert aber noch diese alte Geschichte, sie war damals fünfzehn und konnte auch nicht so richtig begreifen, worum es eigentlich ging. Den heutigen Jugendlichen steht die Welt offen, jeder soll doch seinen Weg gehen und sein Glück suchen, wo er meint, es finden zu können. Sie blickte auf den Sessel, in dem vor einer halben Stunde noch ihre Enkelin saß und von ihren Auslandsplänen schwärmte. Dann würde sie natürlich noch seltener kommen, vielleicht nur zu Weihnachten und zu Ostern und dann auch nur für einen Sprung, denn zuerst kommen ja die Eltern und die alten Freunde sind ja auch noch da.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns arme Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens…“

Eine Woche später, als sie aus dem Keller wieder rausdurften, in den sie als Strafe für ihren Fluchtversuch eingesperrt worden waren, schmiedeten sie den nächsten Plan. Zwei Männer aus ihrem Dorf kamen in der Nacht, um den nächsten Versuch vorzubereiten. Sie hatten schon Erfahrung, weil sie die Strecke bis Gara, nach Ungarn, schon mehrmals zurückgelegt hatten. Urgroßvater sprach zuerst mit ihnen: „Ihr solle mei Familie mitnehme.“ Indem er auf sie zeigte, fuhr er entschlossen fort: „Unsr Lewe isch tou doch nichts mehr wert, awr sie solle noch a Zukunft hawe.“

Ihr Puhl Großvater, der sonst wenig redete, weil er sehr verbittert war, bejahte ohne hochzublicken seine Worte: „Ja, tr Junge muss mr a Zukunft kewe.“

Er hätte ja noch samt seiner Frau mitgehen können, aber sie sind wegen seines kranken Schwiegervaters geblieben. Er war ja so schwach, seine Tochter war immer neben ihm und hat ihn gefüttert, wenn es was zum Essen gab. Er war ja nur noch Haut und Knochen, wenn er redete, dann hat es unter seinem Kinn nur so gewackelt.

„Mich nehmnr nimmi mit, ich hab tes aamoul mitkmacht in tr Nacht, ich bleib tou“, sagte er entschlossen.

„Nou bleib ich aa tou Vatr mit euch!“, fügte Großmutter, seine Tochter, sofort hinzu.

Fliehen oder bleiben und warten, bis die Lager eventuell aufgelöst werden? Eine Entscheidung, die allen tief in die Knochen gefahren ist.

Ihr Vater weigerte sich ohne seine Eltern und seinen Großvater zu flüchten, er wollte sie nicht alleine lassen, aber Puhl Großvater wurde jetzt lauter: „Deinr Kindr muosch ‘s Lewe rette, uns kannsch sowieso nimmi helfe!“

Es war nicht einfach, seine Eltern und den Großvater dort zu lassen, da sie ja mit ihrer Kraft schon am Ende waren. Hoffmann Urgroßvater hat aber ihren Vater verzweifelt angeschrieen: „Schau uf deini Kindr, ihre Lewe muosch rette, ‘s Lewe rette! Hosch vrstande? ‚S Lewe rette!“

Er war seelisch viel stärker als alle anderen und hat dadurch die Entscheidung getroffen.

„Un jetz geht in Gott’s Name. Ich bet‘ far aich a Rosekranz, dass nr heil iwr die Grenz kumme“, waren Großmutters letzte Worte.

Vor kurzem saß Ilse noch da. Wer weiß, wann sie das nächste Mal vorbeischaut. „Omami, was sagsch trzu, wenn ich uf Teutschland arweide geh? Ich hab a guti Stell kriegt, ich tät doppelt so viel vrdiene wie trham“, ihre Worte wiederhallen noch in ihrem Ohr. Was hätte sie denn sagen können?

„Tr Junge muss mr a Zukunft kewe“, hat es auch damals in jener tragischen Situation geheißen.

„Um Gottes willen, beim wie vielti Ksetzli woar ich denn mit meinm Rosekranz?“ – Die Perlen liefen gewandt durch ihre Finger, halblaut murmelte sie ihr Gebet, und dann hörte man nur die Wanduhr schlagen. „Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir, Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat. Heilige Mutter Gottes…“