Der erste Satz ist am allerwichtigsten. Das hat sie im Laufe der Jahre beim Verlag gelernt. Und außerdem noch ganz viel. Aber sie hatte nun genug. Der anfängliche Erfolg war eine leichte Fingerübung gewesen – hatte sie den Eindruck –, aber es wurde keine Routine daraus. Die Motivation verlor sie auch. Sie hatte sich angewöhnt, alles auf den letzten Drücker zu liefern. Sich schön Zeit zu lassen. Aber Zeit hatte sie diesmal nicht.
Immer wenn ein Abgabetermin näher rückte, fing sie an, die Wohnung minutiös sauber zu machen. Es würde ihr helfen, ein besseres Gefühl zu bekommen, eine penible Arbeitsumgebung würde die Phantasie beflügeln. Doch diesmal rann die Zeit noch schneller dem Abgabetermin entgegen. Sie war gerade dabei, den Kleiderschrank auszumisten; um sich an Bergen von Secondhandkleidern abzuarbeiten, deponierte sie alles auf ihrem Bett. Bettbezüge und Wandspiegel verschwanden unter dem überwältigenden Stapel an Klamotten. Das oberste Teil war ein tiefblaues Abendkleid in Samt, dessen Spitze im Sonnenlicht grünlich aufschimmerte. Nun war sie gezwungen, Ordnung zu schaffen, wenn sie sich vor dem Abgabetermin noch ein wenig Schlaf gönnen wollte. Außerdem wäre da noch der Text.
Denn würde sie den Text fertigstellen wollen, müsste sie ja einen richtig guten ersten Satz finden. Und ein Konzept für die Gestaltung der Figuren haben. Und zumindest den Computer hochfahren, ein neues Word-Dokument erstellen und es vielleicht vorerst schon mal betiteln. Und sich ruhig hinsetzen.
Sie hatte eigentlich vor, einen vollständigen Profilwechsel durchzuziehen. Hierfür wechselte sie sogar den Verlag. Dies wäre ihr erstes Engagement bei ihrem neuen Chef. Den Text hatte sie ja eigentlich schon vor zwei Tagen fertig. Nach einer berauschenden Nacht mit zwei Flaschen Bordeaux hatte sie im Schwips (oder im Halbkoma) die Datei aufgemacht und auf Löschen gedrückt. Einfach so. Sicherheitshalber hatte sie auch den Papierkorb geleert.
Am nächsten Morgen rannte sie mit dem Computer in die Reparatur, um alles wieder rückgängig machen zu lassen. Die Werkstatt hatte zu. Sie versuchte den Text aus den Erinnerungen neu zu rekonstruieren. Aber der herbeigesehnte Rausch musste wohl zahlreiche Gehirnzellen vernichtet haben, die für das Erinnern zuständig gewesen wären. Außerdem war es von vornherein unmöglich, so viele Seiten neu zu erstellen. Zeitlich unmöglich. Und den Text hatte sie sowieso als schlecht empfunden.
„Wir verbinden in unserem Leben Eindrücke, Gefühle, Ereignisse, Erlebnisse, Gedanken, Geschehen und konstruieren ein Gefüge von möglichen Zusammenhängen, das für das Ich von besonderer Bedeutung ist. Hierbei lauert die Gefahr, dass dieses Konstrukt der individuellen Bedeutungsebenen einen den Moment verpassen lässt. Ohne Handlungsintention wird die Zeit vergeudet. Das Ich lässt es sich im Konstrukt gut gehen und vergisst das Leben. Einfach die Seele baumeln lassen aus und in der Vergangenheit.“
Leidenschaftlich sammelte sie Kleider. Auch wenn sie sie nur im Kleiderschrank aufbewahrte, war sie hingerissen vom Gefühl der Suche. Der Suche nach Markenklamotten im Secondhandladen. Gelb und Blau waren ihre Lieblingsfarben. Sie hatte es sich als Geringverdienerin angewöhnt, doch die Leidenschaft war auch später noch erhalten geblieben. Manchmal schnitt sie die Markenzeichen heraus, um sie an weniger hochwertige Kleidungsstücke zu nähen. Diese zog sie an. Sie gaben ihr das Gefühl von Stärke.
Sie dachte an ihre alte Schreibmaschine. Daran zu arbeiten wäre nun ein Genuss gewesen. Einerseits die Kraftausübung beim Schreiben, um den nötigen Buchstaben aus der Reserve zu locken, andererseits die Hemmungslosigkeit auf dem Papier. Eine hinreißendere Technik als die ihres Druckers. Einfach loslegen hieß: draufhauen. Mit Genuss. Die Erinnerung daran hatte sie noch aus ihrer Kindheit.
„Schon seit geraumer Zeit bin ich auf der Suche nach dem Wesen der Erinnerungen. Jenen schönen, die uns den Alltag überstehen lassen, die als Fluchtorte unser Leben begleiten. Aber meine Erinnerungen erfahren durch die Jahre eine Art Deformierung. Manche Sachen werden beschönigt, manche verdränge ich lieber, manche aber bestärken mich im Jetzt. Dennoch habe ich vor Entscheidungen, besser gesagt vor den möglichen Konsequenzen, Angst. Die Abgeschlossenheit, das Ende eines potenziellen Weges, bekümmern mich zutiefst.“
Sie wollte etwas völlig Neuartiges schreiben. Nicht einfach schreiben, sondern den Leser überwältigen. Genauer eine neue Gruppe von Leserinnen und Lesern für sich gewinnen: keine Jugendlichen mehr. Aber womit könnte sie Erwachsene fesseln, wie wären sie zu erreichen? Womit könnte sie sie faszinieren? Bücher, „die einen stechen und beißen“ war ihr Leitmotiv: Sie hatte das Gefühl. bislang nur an der Oberfläche ein bisschen was angekratzt zu haben. Aber ab jetzt würde alles anders.
„Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft mutiger zu sein. Alles Neue auszuprobieren und die sich ergebenden Möglichkeiten wahrzunehmen. Eigentlich habe ich mein Gewissen kalt gestellt, und erfahren, dass auch dies nicht ohne Konsequenzen geht. Mein Schutzschild der Erinnerungen, mein Erfahrungskonstrukt mit den Bedeutungszusammenhängen wies undichte Stellen auf: die Grenzen meiner wohlgehüteten kleinen Welt. Die ich aufzugeben eigentlich entschlossen war.“
Nietzsche hat geschrieben, Gott ist tot. Amüsiert drehte sich der Mann zu seinem Tischnachbarn, um im Plauderton die aufgetauchte Frage zu diskutieren. Das Kneipengespräch wirkte auf sie wie Peitschenschläge, denn die Gesprächspartner übersahen, wie traurig das war.
„Schreiben Sie eine Liebesszene!“ – war die Vorgabe ihres neuen Geldgebers. „Seicht und oberflächlich, leicht verdaulich, ohne Komplikationen!“ So war sie aber nicht. Sie wollte immer schon etwas Besonderes, Edles, Unauslöschliches schaffen. Ein Original. Sie fühlte sich immer schon außergewöhnlich und hatte Probleme, anderen gegenüber nicht überheblich zu wirken. Obwohl sie es nie beabsichtigt hatte, keck zu erscheinen. Der Kreis befreundeter Personen war in ihrem Fall immer schon begrenzt.
„Ich wollte aus meiner spiralförmigen, sich immer neu wiederholenden Geschichte ausbrechen, den linearen Erzählstrang meines Selbst aufgeben. Damit wollte ich mir widersprechen. Und dabei wurde mir schwindlig. Ich fühlte mich bodenlos, ohne Halt. Das Bild, wie ein Hochhaus durch Explosion zum Einsturz gebracht wird, kam mir in den Sinn. Demolition. Unreparierbarkeit. Mir blieb nichts weiter übrig, als aus den Trümmern verrußte Erinnerungsstücke herauszufischen. Denn mein Leben funktioniert ohne dieses Konstrukt der erfundenen Wirklichkeit meiner selbst gar nicht!“
Am liebsten trug sie enge Jeans mit einem Rollkragenpulli. Das Weiche von Wolle mochte sie sehr. Außerdem machte sie in ihrem Beruf ständig Homeoffice-Dienste, so musste sie sich für zu Hause nie besonders schick machen. Aber wenn sie ausging: da kramte sie aus der Tiefe des riesigen Kleiderdepots die auffallendsten Kleidungsstücke hervor und trug schicke Abendkleider mit raffiniertem Ausschnitt. Einen weiteren Ausdruck ihres ausgefallenen Selbst‘ fand sie in Schuhen. Diese prangten in allen Farben ordentlich sortiert in ihrem riesigen Wohnzimmer. Alles auf offenen Regalen. Im Gegensatz zu ihren Kleidungsstücken kaufte sie Schuhe nie secondhand. Die kuriosesten Stücke ihrer Sammlung fanden einen besonderen Platz direkt neben dem Fernseher. Das Extravaganteste überhaupt war ein Paar sonnengelber Pumps mit Swarovski-Steinen. Eine Augenweide schlechthin, die für ihre Hochzeit vorgesehen waren. Dazu kam es bislang nicht. Sie wollte strahlen an diesem allerwichtigsten Tag ihrer Karriere sowie neidische Blicke auf sich ziehen.
„Aus kleinen Mosaiksteinen bestehend versuchte ich das Ganze erneut zusammenzufügen. Erschaffen habe ich mich wieder ungefähr. Mit lästigen Kindheitserinnerungen, die ich mitschleppte, die jedoch sinnstiftend erneut auf mich einwirkten. Und die Toleranz, mir und meinen durch mich gestellten Aufgaben gegenüber. Ich ließ mir ein Stück Freiheit; die Perfektionistin außen vor zu lassen war mein wichtigster Entschluss. Hinzu kam eine milde Selektion der unguten Erinnerungen mit konsequenter Verbannung. In der neuen Geschichte meiner Erinnerungen.“
Hat ein Text eigentlich ein Ende? Ist einem guten Text nicht eigen, dass er in zahlreichen Versionen weitergeschrieben werden könnte? Ist der Abbruch einer Textpassage nicht viel mysteriöser und eleganter? Sie umarmte die Klamottenhaufen und packte die Kleider auf den Sessel. Einen weiteren Teil des Stapels trug sie in ihr Wohnzimmer. Einen dritten Teil deponierte sie in der Badewanne.
Erschöpft legte sie sich auf ihr Bett und schloss die Augen, ohne das Licht auszumachen. Ihr letzter Gedanke war, doch noch ein Fragment hinzubekommen. Ein megaspannendes Original.
Gelöscht
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