Auf dem Berg

Vor ihm unten liegt die geliebte und verfluchte Stadt mit ihren Bürgerhäusern, öffentlichen Gebäuden, Kasernen, Palästen, vergoldeten Kuppeln und prahlenden Türmen. Auf den Straßen eilt jeder Mensch zu seinem Ziel und der Lärm der Menge verschmilzt zu einem dumpfen Gedröhn.
Er steht allein und von anderen getrennt auf der leichten Erhebung. Bald treten ihm Tränen in die Augen. Er beweint die Welt, an die er sein ganzes Leben lang geglaubt hat. Er trauert über die Brüderlichkeit der Menschen und die seligen Werte, die er vor seinen Landsleuten gepriesen hat. Jetzt sieht er einsam vom Berg seines Lebenswerks auf das Getümmel hinab und macht sich Sorgen um den Verfall der Kirche, die er mit Gottes schöpfender Kraft jahrzehntelang mühsam gebaut hat.
Er muss zusehen, wie seine klaren Ideen im alltäglichen Ringen mit den Pflichten und der Zeit verloren gehen. Er muss einsehen, dass der Mensch ein anderes Gesetz befolgt als das, welches er für das wichtigste hält. Statt Selbstverleugnung sucht jeder sein eigenes Glück, statt Liebe bevorzugt jeder seine eigenen Interessen. Es wird ihm plötzlich klar, dass Gottes Reich zu weit von der heiligen Stadt entfernt liegt und eine große Mehrheit der Einwohner dieses Reich überhaupt nicht betreten will.
Er ist tief über die Erkenntnis enttäuscht, dass das Volk auch ohne seine Lehren leben kann. Er kennt seine Mitbürger mit all ihren Ängsten, Schwächen, Fehlern, Sünden und hat keine Träume mehr. Ehrlichkeit, Verbundenheit und Glaube liegen ihm höher als religiöse Vorschriften und Traditionen. Er beurteilt seine Mitmenschen nicht danach, was sie vom Leben meinen, sondern was sie in ihrem Leben tun.
Es wird ihm auch bewusst, dass seine Vorstellungen nur ihm allein wahr vorkommen und seine Regeln nur für ihn selbst gelten. Wovon er fest überzeugt ist, bedeutet anderen überhaupt nichts. Die Einwohner der Stadt wollen bloß weiterleben, ohne idealistischen Ratschlägen und Anweisungen folgen zu müssen. Der Alltagsmensch will essen, trinken, die irdischen Freuden genießen und die materiellen Bedingungen für diese Genüsse aufbringen.
Er fühlt sich einsam und von allen verlassen. Er kann nicht mehr in die Stadt zurückkehren, ohne seine Hoffnung auf die Erlösung der Welt zu verlieren. Wie sollte es weitergehen? Er ist entschlossen und besteht weiterhin darauf, dass Liebe Opfer ist und die Welt nur gerettet werden kann, wenn das „Ich“ auf seine Vorrechte verzichtet. Er sieht sich in vollkommener Einheit mit seinem Vater, auf den er sich durchgehend verlässt.
Er weiß, was ihn in der Stadt erwartet: Unverständnis, Hass, Unrecht, Leiden und Tod. Jetzt könnte er noch an seinem Schicksal ändern. Er könnte gleich umkehren, sich in einem Dorf in der Umgebung sesshaft machen, eine anständige Frau heiraten, Kinder zeugen und zu einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft werden.
Die letzten Sonnenstrahlen färben die Dächer und Hausmauern der Stadt orangen. Er bewundert kurz die göttliche Beleuchtung, dann geht er langsam den Hang hinunter. Die frische Abendluft und die Frühlingsdüfte beruhigen seine von Ängsten und Schmerzen gequälte Seele. Der schmale Pfad zeigt ihm den Weg, den er gehen soll.


(Tax, den 19. 08. 2020)