Der Bucklige

In dem pittoresken Bergdorf, wo Aribert seine ersten sechs Schuljahre verbracht hatte, gab es keinen Russischunterricht. Aber eine Grubenkolonie. Die Kumpel in den Zechen wollten auf gar keinen Fall, dass ihre Kinder zu „Towarischi“ erzogen werden sollten. Trotz politischer Vorgabe. Die Tatsache an sich wäre noch gut zu ertragen gewesen, wenn niemand während des Schuljahres umgezogen wäre. In dem Nachbarort war nämlich bereits die Sprache der „Besatzer“ eingeführt worden. Selbst in dem Dorf, wohin die Familie des Jungen nach Opas Tod „umsiedeln“ musste, geschah es so. Glücklicherweise war es Aribert vergönnt, dass er bis zum Schuljahresende die alte Klasse besuchen durfte, zwar ohne Fremdsprache, aber dafür täglich mehrere Kilometer zu Fuß. Der Weg führte durch den Ort, dann entlang der Friedhofsmauer und weiter querbeet über die Wiese. So kam es dazu, dass er eines Nachmittags eine Beerdigung beobachten konnte. Am Grab stand aber nur der Pastor. Alleine. Keine weiteren Trauergäste. Zu Hause angekommen hat er es der Oma erzählt. „Ah“, rief sie, „es muss der Bucklige gewesen sein! Das erklärt auch die fehlende Mittrauer. Das Biest hatte niemand leiden können.“

Ihre Vermutung hatte sich dann später bestätigt. Der Mann, der in der Gemeinde Barbier gewesen war, hatte von Geburt an einen Buckel, der ihm seinen Namen verliehen hatte. Seine körperlichen Beschwerden hatte er mit Gemeinheiten ausgeglichen. Er war zynisch, gleichzeitig bösartig. Zig Male hatte er seine Mitmenschen hereingelegt, karikiert, „zur Sau gemacht“. Welcher wilde Teufel ihn geritten hatte, wusste niemand. Der Barbier hatte Geldstücke auf den Bürgersteig vor seinem Laden geklebt und sich in Lachen aufgelöst, sobald sich jemand danach bückte. Oder er fixierte eine Brieftasche an einem hauchdünnen Faden, um diese dann, sobald jemand danach greifen wollte, wegzuziehen. Solche und ähnliche Geschichten trugen sich zu. Außerdem lockte er die Bergleute in seinen Weinkeller, wo er sie anschließend eingesperrt hatte, so dass sie den Grubenbus verpassten. Letzten Endes hatte er keine Freunde, seine Familie hatte auch schon vor Jahren das Weite gesucht. Daher war es nicht verwunderlich, dass niemand ihm die letzte Ehre erwiesen hatte. „So konnte ich jemanden vom Hörensagen kennenlernen“, sinnierte Aribert Jahrzehnte später, „und vom mangelnden Sprachunterricht profitieren. Aber Russisch kann ich noch immer nicht. Die Vorurteile und meine Faulheit haben auch dazu beigetragen. Im Nachhinein – schade drum.“