Der Dachboden

Es gibt solche Tage, da hat man Lust, auf den Dachboden zu gehen. Ein verregneter Herbstsonntag wäre so ein Tag, und auf einmal überkommt es einen und voller Erwartung besteigt man die steile Leiter. Schon selbst die Lage des Dachbodens hat eine Aussage, immer über unseren Köpfen schwebend, birgt er Erinnerungen. Sogar der Staub da oben hat etwas Magisches, als hätten diesen schon die rauhen Finger und die weichen Kopftücher unserer Urgroßmütter gespürt.

Sie geht nicht oft auf den Dachboden und beginnt den Exkurs damit, den Staub zu spüren. Dieser Staub da oben riecht, meint sie, nach Geschichte. Sie geht deshalb nur selten auf den Dachboden, weil das Licht da oben seit Jahren kaputt ist und auch mit den Spinnen ist sie nicht besonders eng befreundet. Doch ab und zu, wenn die nostalgischen Gefühle siegen, wagt sie ein erneutes Abenteuer in die Welt der Vergangenheit.

Alles, was auf dem Dachboden ist, gilt als alt. Von einem bestimmten Gesichtspunkt ist eigentlich alles alt, davon ist sie überzeugt. Auch der Schuh vom letzten Jahr oder das Fahrrad von wer weiß wann. Wenn auch nicht mir, aber meinen Kindern oder Enkelkindern werden diese Gegenstände richtig alt erscheinen und vielleicht auch eine Geschichte erzählen – grübelt sie.

Vorne auf dem Dachboden bleibt sie selten stehen, da ist wirklich nur das alte Zeug der Gegenwart deponiert, um auf wahre Schätze zu stoßen, muß sie schon richtige Spinnennetze im Haar spüren. Behutsam trägt sie dann die obersten Schichten mit einem Lappen ab und öffnet die Augen für bisher unentdeckte Geschichten.

„Oh…, ein Schuh“, redet sie leise mit sich selbst da oben. Sie nimmt einen Männerschuh, braun, allerdings ohne Paar, in die Hand. Was da wohl passiert sein mochte? Vielleicht mußte der Besitzer, eventuell der Opa, einmal schnell rennen? Vielleicht gerade vor dem Dorfvorsteher, weil er ein Schwabe war, und verlor einen Schuh dabei. „Ach nein, Fehlalarm“, murmelt sie halbwegs enttäuscht. Der andere Schuh ist auch da. Vielleicht hatte der Opa in diesen Schuhen geheiratet und lagerte sie deswegen noch immer auf dem Dachboden. Sie legt den Schuh zurück.

Einige Schritte weiter findet sie alte-neue Töpfe, hochgestapelt fast bis zum Dach. Oma arbeitete ja einst in der Emaillierfabrik, dort erhielt sie viele, hin und wieder leicht beschädigte Waren. Seither sind 30 Jahre vergangen, doch einige mit ungarischen Blumenmustern reich verzierte Töpfe warten noch immer auf ihren Einsatz. Bei jedem Dachbodenabenteuer überlegt sie, wenigstens einen von den vielen Töpfen mit runterzunehmen. „Oma hat damals schließlich hart daran gearbeitet“, murmelt sie den Töpfen zu. Doch gegen die glänzenden, teflonbeschichteten superleichten Töpfe von heute ist schwer anzukommen. Wenn nur die Kochkunst der Oma auch mit drin wäre, würde ich sogar die roten Matyó-Tulpen in Kauf nehmen, denkt sie jedes Mal und läßt den Töpfen wieder einmal die Chance, noch weiter zu altern.

Ein paar Schritte wagt sie noch. Ein alter Schrank. Wie der überhaupt hierher hoch geschafft wurde, ist ein Rätsel, doch wohl auch anderen liegen in der Familie alte Sachen am Herzen, sinniert sie etwas wehmütig. Anstatt den Schrank sofort als Brennholz zu zersägen, wurde er der Ewigkeit des Dachbodens übergeben. Der Schrank ist fast leer. Da stöberte sie nämlich schon sehr oft drin herum. Erst brachte sie die alten Papiere wieder runter, sie waren behutsam in der alten Schultasche vom Onkel verstaut. Briefe und eine Bibel mit dem Todesdatum der Verwandten, handgeschrieben von der Oma, mit ihren feingeformten edlen Buchstaben. Dann einige Kleidungsstücke, hauptsächlich Kopftücher und besticktes Bettzeug; eine Tracht hatte die Oma nicht, alles gestohlen, bis sie aus Rußland zurückkehrte.

Jedes Mal schaut sie mit der Taschenlampe in den Schrank, in alle Ecken, vielleicht gibt es doch noch ein geheimes Fach. Nur noch einige Kopftücher und die Lieblingsstrickjacke der Oma liegen auf dem einzigen Regal, doch he-he, nicht so schnell! Was vor zehn Jahren noch gar nicht so interessant war, könnte jetzt in das passende Alter gelangt sein. „Ach nein, lieber nicht. Ich lasse das doch noch ein bißchen ruhen“, wendet sie sich ab.

Zwischen den Dachziegeln schaut ab und zu die Sonne rein und zeichnet hauchdünne Streifen auf den voll gestapelten Fußboden. Neue Hinweise, neue Spuren? Als würden die Lichtstrahlen mithelfen wollen. Es ist nicht egal, zu welcher Uhrzeit man den Dachboden betritt, wo die Sonne ihr Lichtspiel gerade hinwirft. Am liebsten würde sie die Dachziegeln kurz zur Seite schieben, um mal alles so richtig durchzuleuchten, doch futsch wäre dann die geheimnisvolle Atmosphäre, außerdem würde sie das bei dem nächsten großen Regen wahrscheinlich bitter bereuen. Auf dem Weg nach unten schaut sie noch einmal zu den Schuhen und betrachtet auch den Stapel an Töpfen, kurz entschlossen packt sie den kleinsten von oben, gerade groß genug, um für ein Baby einen Brei zu kochen, und nimmt ihn mit in die Gegenwart. Statt in der Mikrowelle wärmt sie an diesem Abend Kakao einmal in diesem Topf, wahrscheinlich aber nur einmal! Der Kakao brennt an, kocht über, und der Topf ist bei Tageslicht betrachtet noch häßlicher als oben auf dem Dachboden. Sie hat es wenigstens versucht, aber der Topf ist eindeutig noch nicht alt genug. Vielleicht beim nächsten Mal.