Abschied von Waschkut
An jenem fernen Augustmorgen, der unser bis dahin gewohntes Leben unerwartet verändern sollte, saß ich mit Edit, meiner liebsten Spielgefährtin, vor unsrem lindgrünen Haus. Wenn wir, um von unsrem Speiseeis zu lecken, gleichzeitig die Hand hoben, sie die linke, ich die rechte, berührten sich unsre Schultern. Wir lehnten mit den Rücken am rauen Sockel, noch ein bisschen fröstelnd unter der Kühle, die in der Nacht geherrscht hatte, aber auch schon etwas erwärmt von der Sonne, die am wolkenlosen Himmel glitzerte. Obwohl wir mit halb geschlossenen Augen vor uns hinträumen, nahmen wir, geschult durchs naturverbundene Leben, alles wahr, was ringsum geschah: Im Geäst einer Akazie gurrten zwei Wildtauben, von der nahen Schmiede hallten Hammerschläge, aus dem feuchten Gras, das neben dem vom schmalen Kanal halbierten Mittelstreifen wuchs, stieg hauchdünner Dampf, mehrere Sperlinge, die sich auf dem Fahrweg um ein paar Körner stritten, flatterten auf, weil sich ein Fuhrwerk näherte, dessen Räder viel Staub hochwirbelten. Um meine Augen zu schützen, schloss ich sie ganz. Während ich sie wieder öffnete, erkannte ich, dass es dunkler, fast dämmerig geworden war. Vor die Sonne hatte sich eine violettfarbene, schwarzgeränderte Wolke geschoben, die nur ein sehr gedämpftes, unwirkliches Licht durchließ. Ein Seitenblick zeigte mir, dass Edit ebenfalls verstört wirkte, und als wenig später straßenabwärts in einige Häuser Gendarmen gingen, ahnte ich, dass sie auch zu uns kommen würden.
Magischer Ort
Manche Eindrücke bleiben im Gedächtnis, obwohl sie nur Minuten gedauert haben. Das Geschehen am kleinen Teich bei Waschkut gehört für mich dazu. Was sich dort an einem frühen Sommerabend ereignete, liegt viele Jahre zurück, und doch sehe ich es vor mir, als ob es gerade geschähe. Wir waren während meines ersten Besuchs nach der Vertreibung über die mir noch vertraute Hutweide zu der Stelle gewandert, die ich mir in Görlitz oft vorgestellt hatte. Sie ist, denke ich, ein magischer Ort, wo das, was ich mir wünschte, möglich gewesen wäre. Zwar hatte sich Edit, die daheimbleiben durfte, über unser Wiedersehen gefreut, aber mit nichts angedeutet, ob sie wie ich empfand. Als wir das Ufer erreichten, tauchte gegenüber die Sonne hinter einen Buchenwipfel. Der Teich schimmerte rötlich, das Schilf schien zu glühen, die Bäume warfen schwarze, zipflige Schatten, weit drüben schwamm eine feurige Kugel, deren gleißender Schein mich blendete.
„Es ist wie damals“, sagte sie. „Wir standen genau hier, und die Landschaft erschien mir wie jetzt. Erinnerst du dich?“
„Ganz genau.“
War es nur das reizvolle Bild, das Edit erregte, oder dachte sie auch an das, was wir während unsres letzten gemeinsamen Sommers erlebt hatten? Einer der flach von mir übers Wasser geworfenen Kiesel war siebenmal aufgetippt, und sie hatte mich unverhohlen bewundert. Ich meinte, in ihrem Blick den gleichen Ausdruck wie an jenem Nachmittag zu erkennen, und als sie einen Stein aufhob, begriff ich, dass ich mich nicht täuschte.
„Bringst du’s noch?“, fragte sie.
Ich merkte, dass ich verkrampfte. Das Geschoss streifte den Teich, hüpfte ein Stück und ging unter.
„Noch einen!“
Nun tippte der Kiesel viermal auf.
„Alle guten Dinge sind drei“, rief Edit und reichte mir ein stark abgeplattetes Steinchen.
Während ich es warf, beugte ich mich weit vor, verfolgte den Flug und zählte: drei, vier, fünf. Danach starrte ich auf den Teich. Er verlor rasch an Glanz, das Wasser wurde tintig. Die Kugel schrumpfte. Zuletzt war sie nur noch ein Funken, der flackerte ein bisschen, torkelte in die Tiefe und erlosch.
„Schade“, hörte ich Edit sagen, und das eine Wort verstörte meine letzte Hoffnung.