Exil

Georg Gottfreud zog sich in ein altes Landhaus zurück, das er vor ein paar Jahren gekauft hatte, und von da an lebte er nur noch für seine Familie. Er liebte seine Frau und kümmerte sich um die fünf Kinder.
Bis zu seinem freiwilligen Rückzug aus der neubürgerlichen Gesellschaft hatte er Gymnasialschüler unterrichtet. Nach 30 Jahren im Schulwesen hatte er jedoch die unerzogenen Kinder sowie die ungebildeten Eltern, Kollegen und Vorgesetzten übergehabt, außerdem war er auch der sinnlosen Aufgaben und des Mangels an Berufserfolgen überdrüssig geworden. So entschied er sich für das innere Exil.
Er ordnete sich mit seiner Familie in den Dorfalltag ein, indem er anfing, Obst, Gemüse und Weintrauben anzubauen sowie Nutztiere zu halten. Nachmittags gab er örtlichen Kindern Privatstunden in logischem Denken, Mathematik, Naturkunde, Geschichte, Kunst, Musik und Lebensführung. Die einheimischen Bauern nannten ihn nach einer Weile Professor Gottfreud. Sie bezahlten ihn für das Lehren ihrer Kinder in Naturalien und mit kleineren Arbeiten am Haus und im Garten. Georg lernte seinerseits sehr viel von seinen neuen Landsleuten.
Früher hatte er sich in der Großstadt auch in den politischen Streitereien ausprobiert, aber nach ein paar Monaten Politisieren war er davon überzeugt worden, dass er den Herausforderungen des öffentlichen Lebens nicht gewachsen sei, da er nicht ausreichend über Eigenschaften verfüge, die für eine Karriere in der führenden Elite unentbehrlich seien: Kompetenzen wie Fähigkeit zur Interessenvertretung (eher Selbstsucht), Opferbereitschaft (im politischen Jargon ein Wort für Machtgier), diplomatische Ausdrucksweise (eine Umschreibung für Halbwahrheiten) und Anpassungsfähigkeit, worunter der Alltagsmensch wahrscheinlich pure Listigkeit versteht.
In der Gemeinde, in der er schließlich ansässig wurde, ging es anders zu: Anstatt sich mit anderen wertvollen Menschen wegen verschiedener ideologischer Ansichten zu überwerfen, arbeitete er mit seinen Mitbürgern zusammen. Er schloss sich dem örtlichen Gesangsverein an und nahm an den Kulturveranstaltungen der Ortschaft teil. Er ging auf die Dorfbewohner freundlich zu, hörte sich ihre unterschiedlichen Meinungen an und begann sich mit ihnen regelmäßig zu unterhalten. Er ging jeden Sonntag mit seiner Frau und den fünf Kindern zum Gottesdienst und half bei den Aufgaben in und um die Kirche mit. Nach einer Weile wurde er im Dorf Bruder Gottfreud genannt.
In der Freizeit ging er mit den Kindern spazieren, wandern oder Rad fahren. Er las Klassiker wie Platon, Shakespeare, Goethe, Victor Hugo oder Tolstoi und schrieb seine Gedanken in einem dicken Heft auf. Er korrespondierte mit seinen Freunden und besuchte sie öfters. Seine Tür war für ihm wohlgesinnte Menschen immer offen und er beriet seine Besucher, wenn sie Schwierigkeiten im Leben hatten. Durch seine ruhige und friedliche Lebensweise gelang es ihm nach und nach, seine alten schlechten Gefühle wie Ungeduld, Neid und Hass abzulegen. Im Dorf, in dem er mit seiner Frau und den fünf Kindern lebte, wurde er mit der Zeit Gottfreud der Glückliche genannt.