Das Schicksal, behaupten die Weisen, kehrt ab und zu in einen seiner früheren Zustände zurück, bevor es einen neuen Weg antritt. Mich hielt lange ein Bild in seiner Macht gefangen, das Bild einer heranwachsenden jungen Frau, die Frida hieß und der ich als Student begegnete. In ihren tiefbraunen Augen glitzerte traurig der Sommer. Sie lag auf dem Etagenbett im Schlafraum der Hilfskräfte, die rechte Hand unter den Kopf gestützt, und schaute so auf mich, wie nur die sich in tiefen Geheimnissen wiegenden Menschen blicken können. Ich vermutete, dass sie schon lange nicht mehr schlief. Auf den Hügeln, auf denen das Laub der Eichen noch blasse Dampfmützen trug, blinkte mit hellen Farben der Morgen.
„Muss ich sofort gehen?“, fragte sie leise.
„Ja, die anderen warten schon auf dich“, lautete die Antwort, „es ist nicht gestattet, spät zu kommen, du kennst den Vorarbeiter.“
Zwei Monate Johannisbeerernte hatten die Gelegenheitsarbeiter hinter sich. Zwei anstrengende, schreckliche Monate. Auch der Schlaf brachte ihr keine Ruhe. Mit schweißnasser Stirn, in gebückter Haltung erntete sie in ihrem Traum weiter. Sie wünschte sich, dass das, was sie vor Tagen erleben musste, nur ein Albtraum gewesen wäre.
*
„Ich hätte schreien müssen“, vertraute sie mir später an, „dass alles um mich herum explodiert wäre, aber ich blieb still. Nur ein müdes Wimmern verließ meine Lippen. Ich nahm eine Hand voll Früchte und stopfte sie in meinen Mund. Den Geschmack der süßen, roten Kügelchen spürte ich kaum, nur den nach Zigaretten stinkenden Atem des Vorarbeiters. Ohnmacht! Hilflos in meiner Qual!“ Sie griff in ihren Schoß.
„Gott sei Dank, es fand nicht statt, es ist ihm nicht gelungen!“, entfuhr es ihren Lippen.
Ihr Frust ließ langsam nach. Da sie sich bereits darüber Gedanken gemacht hatte, wie sich ihr erstes körperliches Zusammensein mit einem Mann gestalten könnte, hatte sie andere Vorstellungen. Mit Gewalt schon gar nicht. Sie malte sich aus, dass, wenn sie die Liebe einmal treffen würde, sie mit ihrem Geliebten in einem unendlichen Blumenmeer spazieren ginge. „Es mag eine verbrauchte, romantische Einstellung sein“, gab sie zu, „aber trotzdem. Vielleicht benötigt der Mensch überhaupt keine Blumen für die Liebe, aber ohne Geständnis, ohne ein zartes Wort, einfach das Kleid von mir zu reißen?“ Wortlos hörte ich weiterhin zu. In ihrer körperlichen Beziehung zu einem männlichen Wesen war sie niemals über einen Handschlag hinausgekommen. Und dann passierte diese Geschichte, die für immer geheim bleiben musste. Niemand würde ihre Klage verstehen. Mitten im Herzen Europas! Ende des zwanzigsten Jahrhunderts! „Nach der in unserem Land herrschenden Gesinnung“, fuhr sie fort, „darf eine weibliche Person niemals mit dem anderen Geschlecht in intime Verbindung treten, außer mit ihrem Ehemann. Vergewaltigungen gibt es nicht; die Frau ist grundsätzlich selbst daran schuld. Auch meine Mutter würde es nicht verstehen. Meine Mitarbeiterinnen brächten mir ebenso wenig Verständnis entgegen. Das ist nun mal so; hier wird es noch einige Zeit unser Schicksal bleiben!“
Johannisbeerernte
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