Das bisschen Leben

Ich sah den Alten schon, kaum dass ich in die breite Straße eingebogen war, allein vor seinem maisgelben Haus sitzen. Sobald ich mich ihm bis auf einen halben Steinwurf genähert hatte, erhob er sich mühsam und verschwand steifbeinig durch das geöffnete Tor auf dem Hof, als wollte er sich vor mir verbergen. Doch gleich darauf kehrte er mit einem zweiten Stuhl zurück, rückte ihn nahe neben seinen, nahm wieder Platz, legte die Hände auf seine Oberschenkel und schaute, während sich der Abstand zwischen uns Schritt um Schritt verringerte, unverwandt zu mir. Als ich ihn fast erreicht hatte, begann er, in der mir noch vertrauten Mundart zu sprechen.

„I heb g’hofft, dass du moal vorbeikomma werscht“, sagte er. „Drom hoat dr Stuhl di goanzi Zeit henn’rm Tor gstoanna. Und falls mei Wonsch net zu overschämt is, tet i mi riesig gfreia, woannscht di oa bissl zu mr setza welltscht.“

Seine tiefe, kratzige, aber dennoch angenehme Stimme, der eindringliche, gewinnende Blick aus den blaugrauen, von zahllosen Fältchen umringten Augen, die unnachahmliche, ein wenig linkische Handbewegung, mit der er auf den Stuhl neben sich deutete, und die wachsende Neugier, was er mit seiner Einladung bezwecken mochte, ließen mich Platz nehmen.

„Es scheint, als würdet Ihr mich kennen“, begrüßte ich ihn mit der einst im Dorf gebräuchlichen Anrede.

„So ist es“, bestätigte er und mühte sich fortan, hochdeutsch zu reden, als fürchtete er, dass ich sonst nicht alles verstünde. „Ich hab dich als kleinen Bub fast täglich gesehen. Als ich erfuhr, dass du dich hinter dem verbirgst, der für unser Wochenblatt schreibt, hab ich dein Bild aus der Zeitung ausgeschnitten.“ Danach schwieg er und rieb sich eine Weile über den haarlosen Kopf: „Da du mir vertraut bist, möchte ich nicht, dass du mich wie einen Fremdling ansprichst. Einverstanden?“

„Einverstanden.“

„Meine Eltern haben mich auf Florian taufen lassen. Und mit dem Nachnamen heiße ich Faltum wie mein Urahn, der zu den ersten Siedlern gehörte.“

„Dann hast du uns schräg gegenüber gewohnt?“, fragte ich und sah einen großen, sehr schlanken Jungen in meiner Erinnerung aufsteigen.

„So war es“, nickte er. „Vier Häuser von Armin, dem jüdischen Händler, entfernt, dem du so viel Platz in deinen Geschichten einräumst.“

„Zu viel?“, fragte ich.

„Nein“, erwiderte er rasch. „Aber manchmal wundre ich mich, wie unterschiedlich wir dasselbe Geschehen einst wahrnahmen. Auch ich hab den Tag nicht vergessen, als sie Armin mit seiner Frau und dem Sohn abholten, der mein Spielgefährte war. Was du darüber geschrieben hast, kann ich bestätigen. Die Akazien blühten, ich erinnere mich wie du an die Befehle der Gendarmen die neugierigen Gaffer und wie sie später in den Laden eindrangen. Alles schleppten sie weg, was nicht niet- und nagelfest war. Und trotzdem hab ich’s anders empfunden als du.“

„Vielleicht, weil dein Vater dem ‚Volksbund‘ angehörte?“

„Das war es nicht allein. Wenn ich an meine Freunde denke, damals. An die Reden in der ‚Deutschen Jugend’ …“

Er öffnete, als fühlte er sich plötzlich beengt, den obersten Knopf seiner dunklen Weste, die er über dem Baumwollhemd trug. „Ich hab lange drüber nachgedacht, was du schreibst, über Armin und die Juden, und was mit euch geschehen ist, als ihr in einer Stunde packen und eure Häuser für immer verlassen musstet. Ich hab sie anders erlebt, diese Zeit, die auch mir die Jugend geraubt hat, und manchem das Leben. Ich und meinesgleichen, weißt du, wir kommen nicht vor in deinen Geschichten.“

Er schwieg, und ehe ich etwas sagen konnte, fuhr er mit leiser Stimme fort: „Du hattest Glück, zehn Jahre nach mir geboren zu werden. Als die Ostfront zusammenbrach, kamst du in die Schule. Mich hatte man Monate vorher schon eingezogen. Erinnerst du dich, dass ich eines Tages verschwunden war?“

„Dunkel.“

„Wer von uns früher einrücken musste, durfte wählen, ob er zur ungarischen Honvéd oder zur Waffen-SS wollte. Uns blieb nur die feldgraue Uniform. Anders als meine Kameraden empfand ich sie nicht als Degradierung. Ich war jung, wollte zeigen, was in mir steckt, ich war bereit, mein Leben einzusetzen, für den Endsieg zu opfern. Unbegreiflich, nicht wahr? Aber so dachten wir damals.“

Er nestelte am obersten Westenknopf, und seine Stimme wurde noch leiser, als er weitersprach: „Schon die Ausbildung im Schnelldurchgang, weil die Front nach uns schrie, war ernüchternd. Die Härte ließ sich ertragen. Nicht aber dieser Unteroffizier, ein Schleifer, der uns demütigte, wo er nur konnte, weil wir keine Reichsdeutschen waren, wie er uns mit jeder Strafrunde spüren ließ.“

Der Alte zog, als fröstelte ihn, den kahlen Kopf tiefer zwischen die Schultern und knöpfte, ein wenig ungelenk, seine Weste zu: „Das Grauen kam danach. Man hatte mich zu einer Einheit versetzt, die serbische Partisanen bekämpfen sollte. Ein Feind, auf den keiner von uns vorbereitet war: unerwartet und nie zu berechnen griffen sie aus dem Hinterhalt an, grausam und unerbittlich. Von Endsieg sprach keiner mehr, den nächsten Tag zu überleben, das war die Hoffnung, die uns blieb. Allein wäre ich verzweifelt, hätte mich aufgegeben. Doch in Simon, dem Sohn des Bäckers – erinnerst du dich, wie die Jungs in unserem Dorf ihn wegen seiner Körperfülle gehänselt haben? –, ausgerechnet in dem dicken Simon fand ich einen Freund. Er ruhte in sich selbst, strahlte eine Gelassenheit aus, an der ich mich festhalten konnte.“

Der Alte schwieg, als suchte er nach Worten: „Immer, wenn ich an jenen verfluchten Herbsttag denke, wird mir der Mund trocken. Komm“, bat er, während er sich schwerfällig erhob, „lass uns meinen Kadarka probieren.“

Auf dem Säulengang, von Efeu zugesponnen, setzte er sich mit mir an einen viereckigen Tisch, goss Wein aus einer Korbflasche in große Gläser und spritzte ihn mit Sodawasser. Nachdem wir getrunken hatten, begann er zu erzählen.

Partisanen hatten den nach einem Scharmützel versprengten Teil der deutschen Einheit in eine Schlucht gelockt, umzingelt, überwältigt und entwaffnet. Als die Soldaten, von Gewehren und Maschinenpistolen bedroht, in einem engen Kreis zusammengepfercht waren, tauchten Berittene auf, die, um den Erfolg zu feiern, Schnapsflaschen herunterreichten, aus denen die Bewacher reichlich tranken. Vom Alkohol berauscht, befahl ihr Kommandeur den Gefangenen, sich zu entkleiden, trieb sie nackt mit seinen Leuten auf eine Wiese und schrie lachend, sie sollten laufen, so schnell sie könnten. Während die Ersten, von Hoffnung und Angst getrieben, schon aufsprangen, zögerte Florian noch, da er sich nicht wie ein Hase auf der Flucht erschießen lassen wollte. Erst als Simon ihm zurief, er solle versuchen, den gegenüberliegenden Wald zu erreichen, rannte auch er um sein Leben. Er spürte, wie sich die Erregung schmerzhaft in seinen Leib krallte, hörte hinter sich Schreie, Flüche, Hufschläge und das laute Wiehern derb gespornter Pferde, erwartete jeden Augenblick, von einem der Schüsse, die plötzlich fielen, niedergestreckt zu werden, hastete, ohne sich umzublicken, gehetzt vorwärts, zwängte sich atemlos ins Dickicht, wo ihm die Reiter nicht zu folgen vermochten, eilte durchs Unterholz und zwischen Bäumen weiter, immer weiter, bis er auf einer winzigen Lichtung fast mit Simon zusammenstieß.

„Es war“, sagte der Alte, nachdem er sein Glas abgestellt hatte, „wie ein Wunder. Mit zerlumpten Sachen, die wir in einem verlassenen Haus fanden, schlugen wir uns zu den Resten unsrer Einheit durch.“

Sie glaubten, der Allmächtige, wie Faltum ihn nannte, habe sie errettet und hofften, bald heimzukehren, als sie in Bayern in amerikanische Gefangenschaft gerieten. Das Lager, in das man sie steckte, hatte weder feste Gebäude noch Baracken für die mehr als zehntausend Männer hinter Stacheldraht. Sie wickelten sich nachts auf freiem Feld in ihre Zeltbahnen und froren darunter zu Eis, wenn es regnete oder schneite. Nur der Hunger war noch schwerer zu ertragen. „Ein Tier, das dich von innen frisst“, sagte der Alte und schwieg.

Simon, fuhr er fort, habe, abgemagert zum Schatten seiner selbst und von Fieber geschüttelt, fantasiert, aus Pfützen getrunken. Er hätte sein Brot mit dem Kranken geteilt, ihm Trinkwasser eingeflößt. Vergeblich. Der Lebenswille des Freundes war erloschen. Im Sommer 1946 sei er allein zurückgekehrt.

„Das war meine Geschichte“, sagte er, während er nachschenkte. „Sohn und Tochter sind fortgezogen, und seit zwei Jahren ruht meine Mathilde, die mir eine gute Frau gewesen ist, auf dem Friedhof. So verdöse ich das letzte bisschen Leben, das mir unser Herrgott gewährt, ohne sie im leeren Haus. Vielleicht findest du Zeit für einen weiteren Besuch? Ich hätte noch viel zu berichten. Und ich fänd’s schön, wenn du aufschreiben würdest, was im Dorf keiner mehr hören will, für später, wenn wir nicht mehr da sind.“ „Für heute“, sagte ich und frage mich seitdem bei jedem Bild der Erinnerung an den Ort meiner Kindheit, wie es wohl in den Augen des alten Faltum erscheinen würde, der noch immer vor dem maisgelben Haus sitzt und darauf wartet, mir seine Geschichten zu erzählen. Was müsste das für eine Sprache sein, die uns in jedem Augenblick des Lebens wahrnehmen ließe, was mit und durch uns selber geschieht?