Wer ist da? … Unsichtbar, aber anwesend. Schweigend, aber lauter als blaues Licht.
Wer bist du?
Ich bin es.
Den Duft kenne ich. Das sind die Veilchen vom Akazienwald am Rande des Friedhofes, wo ich als Kleinkind zwischen weggeworfenen Schädeln meiner Vorfahren die kleinen, blauen Blumen gepflückt habe. Unvermeidbar kam mir dabei der Gedanke, ob ich viele Jahre später auch nur ein Schädel werde, der die Veilchen mit leeren Augenhöhlen anstarrt und den Kindern Angst macht.
…
Wer hält meine Hand?
Ich bin es.
So weich, so sanft wie Seide.
Ich bin es.
Ich kann dich hören!
Ich bin es.
Du?
Ich.
Mein Engel.
Ich bin kein Engel.
Du kannst nur ein Engel sein.
Engel haben Flügel.
Hast du keine?
Nein. Sie können einem nachträglich nicht mehr wachsen.
Du hast aber eine Engelsstimme.
Das hör‘ ich von dir das erste Mal.
Ich kann dich sehen! Ich kann dich sehen! … Wer bist du?
Erkennst du mich immer noch nicht?
Meinen Augen bist du bekannt. Ich kenne dich aber nicht.
Bin ich so anders geworden?
Du bist schön.
Früher war ich schöner.
Früher war alles schöner.
Ich konnte nicht früher kommen.
Egal, ich habe dich eh nicht erwartet.
Leider habe ich deinen Geburtstag verpasst.
Leider habe ich mein Leben verpasst.
Dein Leben fängt eben an.
Mein Leben war ein gegen die Wand geworfenes, faules Ei.
Das du gegen die Wand geworfen hast!
Ich habe mein Leben nie betreut.
Haben einundneunzig Jahre nicht gereicht, den Faden zu finden?!
Doch, Paprikaschoten wurden auf ihn gefädelt.
Ich meinte den roten Faden.
Ach, der rote Faden! Wo führt dieser Faden hin?
Das weißt du genau.
Ich bin unwissend. Ein Bauer mit Traktor.
Ich darf dir nun Geheimnisse verraten, wenn du möchtest.
Was möchtest du dafür haben? Ich befürchte, ich würde dir alles geben, was du nur haben willst.
Du musst nur mitkommen, sobald ich dich rufe.
Ist das eine Versuchung?
Ach was!
Du sitzt auf meinem Bett, gibst mir an, Geheimnisse zu erzählen, und du lockst mich in das Unbekannte. Was ist das, wenn keine Versuchung?
Die einzige Wahrheit.
Die Wahrheit tut weh.
Sie tut nicht weh.
Ich habe zu viel gelitten.
Sie tut nicht weh.
Ich habe Angst!
Sie tut nicht weh.
…
Es wird allmählich kalt.
Bei mir ist es warm.
Meine Füße sind eiskalt.
Dein Herz ist warm.
Die Kälte steigt mir immer höher im Leib.
Komm mit!
Mari! Mari! Du bist es!
Lass den Faden nicht los!
Jesu, ich bin dein, du bist mein, in deinem Namen schlafe ich… ein.
Dreizehn Monate (13 und Abschluss)
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