Kalter Glanz

Weil ich miterleben wollte, wie das neue Kaufhaus eröffnet wurde, begab ich mich rechtzeitig vor Ort, und ich wäre, obwohl der gewaltige Andrang fast meinen Sinn wandelte, wahrscheinlich im Sog der Menge nach innen gelangt, wenn ich von links, verursacht durch ein Gerangel, das ich bloß aus den Augenwinkeln erfasste, nicht jenes eine Wort gehört hätte, das mich jäh aufmerken ließ. Einst von Großmutter benutzt, um ihren heftigen Unmut über etwas auszudrücken, war es mir mit den Jahren nahezu aus dem Gedächtnis gewichen, und während ich mich, eingeschlossen von der Masse, mit wachsender Gewalt weitergeschoben fühlte, begann ich bereits zu glauben, einem Irrtum erlegen zu sein, bis ich das Wort, lauter und entrüsteter als vorher, noch einmal vernahm: „Pitanka!“

In dem vertrauten Tonfall hervorgestoßen, den ich bei Großmutter bis zuletzt vernommen hatte, reichte es aus, dass ich mich mit ganzer Kraft gegen die Drängler stemmte und mir seitwärts einen Weg zu bahnen begann.

Noch ehe ich den kleinen, alten Mann, der sich, mit einem breitkrempigen, abgewetzten Hut und einem zerschlissenen, für ihn viel zu langen Mantel bekleidet, neben einer durch Halogenlampen angestrahlten Wand in Richtung Straße entfernte, einzuholen vermochte, drehte er sich um und betrachtete mich, derweil die Menschenwelle an uns vorbeiflutete, so finster aus seinen von zahlreichen Runzeln umgebenen, tief in den Höhlen liegenden Augen, als vermutete er in mir einen der rigorosen Männer, die ihm den Zugang verwehrt hatten.

„Net ufrega“, bat ich, bevor er etwas sagen konnte. „I ben koan’r von deni Pitanka.“

Meine Äußerung verwandelte sein Gesicht. Es entspannte sich, die Augen begannen zu schimmern, und seine Stirnfalten verflachten.

„Oa Schwoab“, meinte er verblüfft. „Wer des Woart kennt, des en koama Duden steht, und von dem i selw’r net g’nau woaß, woas ‘s hoaßt, koann bloß oa Schwoab sei!“

Es ist wie bei Großmutter, dachte ich. Auch sie benutzte den Ausdruck als ein für jede Gelegenheit geeignetes Schimpfwort, ohne zu erfassen, dass es, da es sich wahrscheinlich von dem ungarischen „bitang“ ableitete, eigentlich „Schurke“ bedeutete.

„Woann sich zwoa Schwoawa so ov’rhofft en dera großa Stadt treffa, sellta se net aus’rnoann’rloafa, ohni oa biss’l zu v’rzehla“, schlug ich vor. „Wie wer’s, woann m’r wu noageha, wu’s werm’r, schen’r on ruhig’r is?“ Sobald ich merkte, dass er zögerte, glaubte ich, den Grund zu ahnen und fügte hinzu: „I load Eich noatirlich ei.“

„Oa Wohltet’r“, rief er fassungslos. „En dera geiziga hoartherziga Zeit oa freigewig’r Mensch, der no oa Schwoab is, doa fercht m’r schobboal, m’r hat sich v’rhert.“

„Ihr het Eich net v’rhert.“

„Noa doann, en Gott’s Noama“, willigte er ein, „uff en’s woarmi scheni Stiww’l!“

Als wir die Straße überquerten und auf das kleine Restaurant zuhielten, in dem ich gelegentlich ein Bier trank, fürchtete ich fast, die abgetragene Kleidung meines Begleiters könnte auch dort Anstoß erregen, doch der Kellner bemerkte uns erst, nachdem wir bereits neben einem Fenster Platz genommen hatten.

„Ich heiße Martin“, sagte mein Gast, kaum dass wir saßen, und er verfiel, als fühlte er sich durch die ungewohnte Umgebung dazu veranlasst, in die Sprache, wie sie in der Stadt vorherrschte. „Schließlich sollst du wissen, für wen du die Spendierhosen anhast“, fuhr er fort, musterte mich, als ob er ergründen wollte, ob seine Bemerkung meinen Beifall fand, und setzte, da es ihm anscheinend nicht gelang, erwartungsvoll hinzu: „Es stört dich doch nicht, wenn ich dich duze?“ „Überhaupt nicht“, bestätigte ich, redete, um mich anzugleichen, fortan wie er, nannte ebenfalls meinen Namen und bemerkte, dass sein grauer Anzug, den der schäbige Mantel vorher verborgen hatte, auch nicht mehr neu war. Aber er deutete darauf hin, dass sein Träger, dem er wie maßgeschneidert passte, mal in besseren Verhältnissen gelebt haben musste. Genauer betrachtet, wirkte Martin, wie ich beinah überrascht feststellte, für sein Alter – ich erfuhr, dass er bald achtzig würde – insgesamt wohltuend gepflegt: Das grauweiße, kaum gelichtete Haar war frisch geschnitten und sorgfältig gekämmt, das schmale, unter den Jochbeinen eingefallene Gesicht glatt rasiert, der Hemdkragen, den er offen trug, rundum sauber.

„Ein Bier?“, fragte ich. „Oder lieber Wein?“

„Lieber Wein“, sagte er. „Einen Schoppen Roten, wenn’s recht ist.“

„Und zu essen?“, erkundigte ich mich, weil ich annahm, dass er auch hungrig sein könnte.

Es wirkte, als fürchtete er, unverschämt zu erscheinen. Erst als ich ihn nochmals ermuntert hatte, bekannte er: „Was Herzhaftes wie daheim.“

Nachdem ich außer dem Wein eine Salamiplatte für ihn bestellt hatte, meinte er: „Am liebsten hab ich früher unsere selbstgemachte Kolbász gegessen. Fachmännisch geräuchert, hielten sie ungewöhnlich lange. Geschlachtet wurde bei uns immer Mitte Dezember. Meist war es bitterkalt, der Schnee türmte sich fast meterhoch neben den schmalen, frei geschaufelten Gehwegen, in die Klumpen schoben wir Stroh, damit unsere Füße warm blieben, und den Körper schützte so richtig nur ein Bunda.“ Er blickte eine Weile versonnen durchs Fenster, ehe er sich wieder mir zuwandte und fragte: „Kannst du dich noch an manches erinnern?“

„An alles. Ich hab nichts vergessen.“ Nicht den hohen, wattigen Schnee, der lange weiß blieb, dachte ich, nicht die reglosen Raben, die, von einer blassen Sonne beschienen, hinter dem gegenüberliegenden Haus mit eingezogenen Köpfen auf den kahlen, erstarrten Ästen der drei mächtigen Eichen saßen, nicht den strengen Frost, der morgens auf dem Schulweg meine Gesichtshaut vereiste, nicht die Wärme des Sparherds, in der sich unsere Katze Schneewittchen wohlig rekelte, nicht meinen Rodel, dessen lange, feste Hanfleine ich, vom Kutscher unbemerkt, im Laufschritt um den Schragen eines Pferdeschlittens schlang, das Ende festhielt und mich bäuchlings über die glatt gefahrenen Wege bis zu den im südlichen Hotter gelegenen Türkenhügeln ziehen ließ, wo ich, bis ich trotz meiner dicken Fäustlinge empfindlich an den Fingern zu frieren begann, mit Gleichaltrigen wieder und wieder einen baumlosen, steilen Hang hinabfuhr.

Als der Kellner den Wein brachte, kostete Martin ihn gleich. „Nicht übel“, lobte er. „Fast so gut wie unser Schiller daheim, den wir jeden Herbst kelterten.“ Er blickte abermals geraume Zeit aus dem Fenster, ehe er weitersprach: „Das ist alles eine Ewigkeit her, und doch kommt mir manches vor, als sei es erst vor kurzem geschehen.“

Als wenn er beweisen wollte, dass sich die Eindrücke, die er meinte, tatsächlich mühelos abrufen ließen, begann er, nachdem er die ersten Bissen gegessen hatte, anschaulich zu erzählen, was ihm bedeutsam erschien. Ich erfuhr, dass er aus einem seinerzeit überwiegend von Deutschen bewohnten Dorf stammte, das keine dreißig Kilometer von meinem Geburtsort entfernt lag. Er lernte in der Drechslerei seines Vaters, heiratete nach dem Militärdienst die Gastwirtstochter Julia und wurde, noch bevor sein Sohn zur Welt kam, bei Kriegsausbruch eingezogen. Im Herbst 1944 geriet er mit dem kläglichen Rest seines Truppenteils in russische Gefangenschaft, von wo er, körperlich und seelisch wie mein Cousin Paul zerschunden, erst zurückkehrte, als Frau und Kind bereits vertrieben worden waren. Mit Mühe fand er sie in der Stadt zwischen den Bergen, die ihm nicht mehr Heimat, aber neues Zuhause wurde.

„Es erschien mir als so großes Glück, nach den verplemperten Jahren meine Julia und den Jungen in die Arme schließen zu können, dass ich mir nur wünschte, die Kraft möge reichen, noch einmal zu beginnen“, sagte er. „Mein Beruf, in den ich mich rasch einarbeitete, erwies sich als vorteilhaft. Zwar fiel der reguläre Lohn nicht üppig aus, aber später ergab sich die Möglichkeit, mich bei einem Kollegen, der nach Feierabend in seiner Kellerwerkstatt für kunstgewerbliche Geschäfte drechselte, zu beteiligen, und da Julia in einer Großküche halbtags hinzuverdiente, kamen wir gut zurecht, fehlte es dem Jungen, der sich erfreulich entwickelte, an nichts. Dennoch schielten wir manchmal nach drüben, konnten uns, weil wir das Lager scheuten, in das wir gemusst hätten, aber zu keinem Wechsel entschließen, und als sich zeigte, dass unsre Seite immer mehr ins Hintertreffen geriet, war der Fluchtweg versperrt.“ Er trank einige Schlucke, stellte das Glas langsam ab und sah mich nachdenklich an, während er fortfuhr: „Ich weiß nicht, ob ich unser Zögern bedauern soll; denn bescheiden, wie wir lebten, blieb jeden Monat etwas übrig, das wir für später sparten, ohne zu ahnen, dass meine Julia mich vorzeitig verlassen würde. Noch voller Trauer über ihren plötzlichen Tod, lenkten mich die Geschehnisse, die ich für unmöglich gehalten hätte, ein wenig ab, und als schließlich die Grenze fiel, erfüllte mich eine gewaltige Erwartung wie nach der Gefangenschaft, glaubte ich so fest an eine späte, ausgleichende Gerechtigkeit, dass ich mich sträflich leichtsinnig verhielt.“

In der Annahme, er würde für das einst Verlorene einen erklecklichen Betrag erhalten wie jene Vertriebenen, die es in den Westteil verschlagen hatte, überließ er dem Sohn, der für seine Familie den langgehegten Traum vom eigenen Haus verwirklichen wollte, alle Ersparnisse. Trotzdem geriet der Bauherr, durch seine Bank falsch beraten und die beauftragte Firma geneppt, in ärgste Bedrängnis, als er arbeitslos wurde und später nur eine schlecht bezahlte Stelle fand.

„Die läppischen vier Tausender, die ich statt des erhofften Ausgleichs erhielt, reichte ich sofort weiter“, sagte Martin. „Aber sie waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Um das Haus halten zu können, musste der Junge die für mich geplante Einliegerwohnung vermieten. Damit er zahlungsfähig bleibt, gebe ich ihm von meiner Rente, was sich abknapsen lässt. Wohl zu viel, fürchte ich, seit ich vorhin erlebt habe, dass man mich für einen Stadtstreicher zu halten scheint.“ Er trank sein Glas in einem Zug leer und setzte es hart auf die Tischplatte zurück. „Schlimmer als die Einsicht, dass meine überspannten Erwartungen töricht gewesen sind, empfinde ich, dass es zwischen den Menschen kaum noch jene Wärme gibt, wie sie daheim üblich war. Ihre Seelen wirken eingefroren, ihre Herzen verhärtet. Und haben nicht sogar die Gebäude, die sie errichten, einen kalten Glanz?“

Als er, ohne eine Antwort zu erwarten, zum Kaufhaus blickte, vor dem sich noch immer die Besucher drängten, sah ich, wie sein Kehlkopf, obwohl er längst nicht mehr aß, krampfhaft in fast gleichmäßigen Abständen ruckte. Aus dem Band „Im Staub der Jahre. Erzählungen