Seit Neumond ist es mild geworden. Von den Dächern rinnt selbst nachts das Schmelzwasser und auch im Wald lichtet sich der Schnee, sodass bereits kleine Hügel von halb vermodertem Herbstlaub und Inseln trockener Grasbüsche es verkünden, dass der Winter an Kraft verliert. Der Himmel ist nach einem schnellen Regen, der durch den Westwind getrieben weiterzog, klar. Wie Wogen des himmlischen Meeres kam er auf und mäßigte sich dann wieder, um neue Kraft zu schöpfen. Mit den zerfetzten, dunklen Wolken ist nun auch der Wind dahin, sodass die letzten Strahlen der Abendsonne noch über den Hügeln gegenüber durchblicken konnten. Sie färbten das Firmament erst orange bis heftig rot, schließlich erhob sich ein nebeliges Violett, das in schwarzes Lila überging, um den Tag in die Nachtstille hinübergleiten zu lassen.
Auch wenn sich die feuchten Lumpen in Fetzen vom Körper schälen, schimmert einem in solchen Momenten nach jedem neuen Atemzug mehr und mehr ein Glauben daran entgegen, dass nach dem überstandenen Winter wieder Kraft in die Glieder fährt, und dass – in Gottes Namen – ein Leben noch möglich ist. Denn auch Vagabunden und Bettler mögen den Odem und den Kreislauf in sich, sei auch der Wunsch selbst nach einem Obdach unter ehrbaren Bürgern längst schon verflogen: an seinem puren Dasein kann man sich dennoch erfreuen. Behütete Menschen anderer Wirklichkeit verstehen es nur schwer, warum einer dieser Elenden vor auf ihn gehetzten Hunden noch die Flucht ergreift und sich wehrt, anstatt sich insgeheim darüber zu freuen, dass dieses inhaltslose Leben bald zu Ende geht. Auch wenn man für vogelfrei erklärt, von allen ausgestoßen und verfolgt wird, gibt es weder Argwohn noch Rachegedanken – ach, was! –, nicht einmal Enttäuschung mehr darüber. Es gibt allein das Leben, das nur sich selbst beinhaltet, das sich von allen Werten und auch vom Selbstmitleid losgesagt hat. Und auch wenn es eines Tages ausgeht, ohne einen einzigen Groschen Erbschaft jemandem zu hinterlassen oder auch nur einen Gedanken in einem Mitmenschen erzeugt zu haben, und wenn sich selbst im Himmel kein Tor für die emporsteigende Seele auftut und nicht einmal vom Purgatorium oder von der Hölle sich eine Vorahnung bestätigt, wird man teilnahmslos erlöschen. Warum soll es einen noch kümmern, wen und wann der ausgekühlte Leichnam noch erschaudert? Wenn jemand zu seinen Lebzeiten allen Mitmenschen gleichgültig war, wird dieser kleine Moment von Ärgernis bereits belanglos sein. Was kümmert, ist den Magen zu füllen, wenn Hunger aufkommt, Wasser zu haben, um den Durst zu löschen, ein Stück Sohlenleder zu finden, wenn das Schuhwerk durchlöchert ist, und alte Lumpen von Vogelscheuchen runterzuzerren, um den bloßen Körper zu verhüllen. Das ist alles.
Der Umhang ist feucht und nach diesem plötzlichen Regen gibt es kein Feuer, um sich zu trocknen. Sterne leuchten auf, die Mondsichel wird sichtbar und der Atem umgibt das Gesicht durch einen flüchtigen Nebel, der die Augen verschleiert und dazu ermutigt, einen Schlaf zu wagen, der hoffentlich bis zum Morgengrauen anhält, ohne sich halbwach herumwälzen zu müssen.
Am Rande der Lichtung steht der Nussbaum, der von altem Schlehdorn umwachsen ist. Er schützt, wo ich im Traum versinke – und in der Tat haben meine Finger auch noch fünf Nüsse im feuchten Laub und im Gras ertastet. Sie lassen sich leicht knacken, weil die Nässe sie bereits aufquellen ließ. Bitter sind sie. Aber an den bitteren Geschmack konnte man sich bereits gewöhnen. Das letzte Viertel von der fünften Nuss zerkaut – und schon entschwinde ich aus dem Wachzustand und sinke in eine Welt, in der ich in einem anderen Zuhause bin.