Requiem (Ein Monolog)

Wie dieses Haus, wie dieser Haufen Schutt hinter Holunder- und Wildrosen-Hecken zieht mich keine Sehenswürdigkeit der Welt an. Einst die Wassermühle meiner Familie, meiner Ahnen – es hätte auch mein Zuhause sein können. Und das ist es auch in gewisser Weise, da ich immer wieder mal hier auftauche. Mei¬ne Großmutter war nicht in der Lage herzukommen. Für sie hatte sich die Vergangenheit in ein trauriges Märchen verwandelt — in sich wiederholende Worte – in ein Leben im Damals.

Bis zu ihrem Tod bin auch ich nicht hierhergekommen. Doch weiß ich, wo der Herd stand, und alle Geschichten, die man damals am Abend, während die Kartoffeln in der Backröhre lagen, bei offener Ofentür erzählte, sind mir bekannt und gegenwärtig. Ich weiß auch, dass der Dachboden eingestürzt ist, weil die neuen Eigentümer, denen das Gebäude zugewiesen wurde, nachdem sie den Anspruch auf eine städtische Wohnung geltend gemacht hatten, die Dachziegel noch verkauften, bevor sie gingen.

Später erwarben manche von uns ihr Vermögen zurück. Zu ihnen zählten wir nicht. Die Ungarn sagten damals, man müsse die Deutschen nur nackt über das Dach werfen und auf der anderen Seite fallen sie voll bekleidet herunter.

Zweifellos war es der mühevolle Kampf um das Eigene, um das unverstanden Verlorene, der den stumm-machenden Trotz zur Folge hatte. Dieser Trotz raubte unsere Worte. Unsere Worte aber waren unser Bewusstsein – und unser Bewusstsein unser Trotz. Als unser Trotz erlosch, entspannten sich die Fäuste, die Blicke senkten sich zu Boden, und wir begannen ungarisch unsere Gebete zu murmeln, unsere Bücher zu verbrennen und unsere Ahnen zu vergessen.

Also wurden wir gleichberechtigte Bürger Ungarns: Wir durften die gleichen Schulen, die gleichen Institutionen und Behörden besuchen und die gleiche Sprache sprechen. Ja, wir sind ein krummbuckliges, rückgratloses Volk geworden, welches seine einzige Freude im erbarmungslosen Schuften fand. Mein Volk musste nicht – es wollte zugrunde gehen. Denn seitdem wir diesen Boden betreten hatten, wurden wir betrogen, immer wurde uns etwas vorge¬gaukelt, was nie in Erfüllung ging. Nur einmal nahm uns die Welt wahr: Und als wir infolge dessen bestraft wurden, waren wir dazu verurteilt, uns selbst zu vergessen.

Meine Generation, die zweite nach dem Krieg, ist diejenige, die im Kindergarten noch unbekümmert deutsch plauderte, im Grundschulalter dann auf Großmutters Fragen auf Ungarisch die Antwort gab. Nur in denen, die ihren Trotz nicht aufgeben wollten, lebte ein beharrliches „Vater unser“ statt eines „Miatyánk“ weiter. Was den Unterschied ausmacht, wissen nur wir: Denn wir sind die überlebende Pflicht, die Vererber unseres Volkstums, die Überlieferer unserer Nationalität. Wir nehmen bewusst und gewollt die Isolation auf uns, um als sprachliche Insel in der Flut der Anderssprachigkeit zu existieren.

Eine Weisheit, eine Tugend veredelt uns und macht uns in unserer Schwäche stark: Wir können auch in der Qual lächeln, erhobenen Hauptes in hasserfüllte Augen schauen, und dennoch in Zufriedenheit sterben. Wir sind diejenigen, die man nie zur Magyarisierung bewegen konnte, die ihren Namen nicht verkauften – nicht um Stelle oder Position, die auch das Unterdrückt-Sein ihrer Kinder in Kauf nahmen, die wir unser Volkstum so weitergeben, wie wir es vererbt bekamen und so unseren Nachfahren nicht zur Last, sondern zum Stolz werden.

Jetzt sitze ich auf der Schwelle der Wassermühle, lasse Gedanken durch meinen Kopf gehen, als wären sie Staub in einer unbegreiflichen Sanduhr, als wären sie das Geräusch des Baches, als wären sie ein betäubendes Mittel, das einen in eine längst verdiente Ruhe überführt.

Morgen überrollen haushohe Feldmaschinen diese Ruine und machen sie dem Erdboden gleich, damit im nächsten Frühling schon kräftiger Mais auf dem ausgeruhten Boden wachsen kann. Doch meines Besitzes werde ich auch dann nicht beraubt sein: Durch alle sich im Wind schaukelnden Blätter wird meine Großmutter mir entgegenwinken und aus den Kolben blickt sie mich an, mit ihren Augen, die mir ewig zulächeln, mit einem Blick, der mich immer begleitet.