Das Gehen aufrecht. Bewegung mit Ziel vor den Augen. Hat mir jemand erzählt, der viel gegangen ist, dass man mehr erlebt zu Fuß unterwegs. Kommt man durch den Hohlweg, gibt es Äste, die einen streifen. Oder man soll ausweichen, damit sie einem nicht das Gesicht kratzen oder ritzen oder die Hand verletzen. An manchen Stellen soll man nicht zu schnell sein zu Fuß unterwegs. Weil die Hecken wilder Rosen und Schlehdorne mit Dutzenden feiner Äste ein zähes Hindernis bilden. Am besten soll man sie sich mit seinem Stock, den man für den Zweck unterwegs im Unterholz ausgewählt hat, vom Leibe halten. Mit dem Stock, der nicht ein lebendiger Zweig ist, sondern eher ein gerader Stock, der noch nicht morsch, sondern nur gut ausgetrocknet sein soll. Doch er darf unter den verrottenden Blättern vom vergangenen Herbst gelegen haben. Da ist er zwar modrig feucht von außen, aber die Rinde schabt man mit bloßen Fingern ab, denn unter der Rinde ist das Holz glatt. Und wenn man lange unterwegs ist und sich bei jedem zweiten Schritt leicht aufwärts und abwärts der widerspenstigen Fußwege in der Hügellandschaft mal mit dem ganzen Körpergewicht darauf stützt, durchritzt er nicht die Haut der inneren Handfläche, sondern lässt mit der Zeit die Haut zäh und geschmeidig glatt anfühlen. Einen guten Stock behält man gerne und er wird einem zum Freund, wenn er auf der Ebene einen Krug voll Quellwasser und die eingebündelte Wegzehrung auf der Schulter mitträgt. Bei Nacht ruht er griffbereit an der Seite und trennt den Schlaf von Angst und Unruhe. Nach Tagen ändert der Stock seine Farbe. Wurde er weiß oder wenigstens hell, nachdem er von der Rinde befreit war, reift er durch den Schliff der Hände und durch ihren wohl fettigen Schweiß in einem Gelbton heran. Roch er am Anfang noch – nach der Art des Baumes – ein wenig süß oder leicht bitter kerbig und sauer nach Harz, so nimmt er mit der Zeit den Geruch des Weges an und speichert ihn. Ist der Weg sehr lang, erscheinen Risse am guten Stück Holz. Von unten, von der Spitze her, die den Halt auf jedem Boden sucht, die sich an Steinen mit Klopftönen vorwärtstastet, im Staub mitdurstet und bei Regen sich dreckig in die Tiefe vom Matsch drängen läßt und Bäche durchqueren hilft, wobei sie sich in den sandigen Kies bohrt und dann während der Schritte, die durch Lichtungen führen, wieder trocknen kann, werden die Risse erscheinen. Ist einem der Stock gut an die Hand gewachsen, wird man ihn jetzt schonen. Man kennt ihn und weiß, in welchem Winkel er weniger belastet wird, wo er einem jedoch noch weiterhilft. Der Riss wird aber weitergehen. Entlang des Stocks, wo er bei Astknoten eine ganze Zeit aufgehalten wird, diesen dann in Halbkreisformen ausweicht und – wenn der Stock noch gerade gewesen ist – an ihm nun eine Krümmung zulässt. Als ob die Kräfte im dünnen Holz die ganze Zeit schon auf Entspannung und Unregelmäßigkeit gehofft hätten und jetzt den wahren Körper des Stockes freigeben möchten. Der Riss kann aber auch zum Aufspalten von der Spitze her führen. Da kann die kleinere Hälfte Jahresringen entlang wegbrechen oder wegplatzen und einen fast spitzen Stumpf hinterlassen, der sich auf dem weiteren Weg noch, wenn er zäh genug ist, bewähren kann und sich auch abwetzt und auf eine neue ebene Stützfläche verschleißt. Doch sind die gespaltenen Hälften fast gleich in der Stärke, und die Fasern vom Gehholz geradlinig dem anderen Ende zulaufend, dann wird der Stock hinderlich, weil im Spalt sich Blätter, Grashalme und Erdreich verfangen, die durch ihr Gewicht das Weiterkommen hindern, ja sogar Ranken und Wurzeln einklemmen und einen zum Stillstand bringen können, bis man sich wieder befreit. Ist der Stock noch lang genug, so wird man ihn mit Mühe, weil man außer einem Taschenmesser nichts dabei hat, bis oberhalb des Risses noch kürzen können. Nach ganz langem Weg aber geht der Stock kaputt. Wenn er zu kurz wird, stützt er einen nicht mehr bei jedem Schritt, wo er soll, ab. Auch krümmen kann er sich, bis man seinen sicheren Schritt verliert, weil er bei Belastung sich in entscheidenden Momenten bei müdem oder mattem Griff leicht verdrehen kann und einen stolpern oder hinfallen lässt. Seltener passiert es, obwohl es nicht unmöglich ist, dass der Stock zerbricht. Die Bruchstelle ist nicht in der Mitte, sondern eher im unteren Drittel, wo der Stock dünner und so schwächer zuläuft. Meist war aber in solchen Fällen die Auswahl des Gehwerkzeugs nicht richtig, weil das Holz zu modrig, von Pilzen oder von Käfern befallen war. Nur selten kommt es vor, dass, wenn man nach Jahren des Erholens sich wieder auf den Weg macht, seinen lieb gewonnenen, in Ehre aufgehobenen, aber inzwischen schwach gewordenen Stock auf einem neuen Fußmarsch bei sich trägt. Der Tag, wo man sich von seinem Gehstock trennen muss, wird aber kommen. Wie Menschen ankommen, Wege zu Ende gehen oder man unwegsame Hindernisse erreicht, so werden auch die noch so treuen Stöcke eines Tages der Vergänglichkeit geweiht. Ob man sie da einfach im Gras, auf dem Feld liegen lässt, begräbt, sie dem schnellen Lauf eines Baches anvertraut, sie von einem hohen Berg in die Tiefe wirft oder beim nächtlichen Lagerfeuer verbrennt, sei jedem Wanderer selber überlassen. Im seltensten der Fälle wird einer, der etwas davon versteht, sich eine Flöte aus dem gealterten Stock schnitzen. Und wenn sie später noch so heiser ertönt, erzählt sie allen, die die Wege scheuen, und in der Ofenecke sich die Geschichten der Wanderer mit angstdurchsetzter Ehrfurcht anhören, von Zeiten der Wanderung, und gibt den Trotz hunderttausender Schritte frei.
Vom Gang
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