Diesmal hat sie es geschafft, sie konnte sich im Restaurant neben ihren ehemaligen Klassenleiter setzen. Vor fünf Jahren, auf dem Bankett, war es nämlich nicht möglich, weil sich alle mit ihm unterhalten wollten, nachdem er ihnen das Du angeboten hatte. Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass sie damals, kurz nach dem Abitur, noch nicht den nötigen Abstand zu den Geschehnissen gehabt hatte.
Sie wollte es schon immer mit ihm klären, aber wie, unter welchen Umständen sie es am besten tun könnte, wusste sie nicht. Als sie vor einer Stunde im ehemaligen Klassenraum saßen und jeder das neueste Kapitel seiner Lebensgeschichte erzählte, konnte sie sich wieder nicht auf die anderen konzentrieren. Ihre Erinnerungen wurden wach und als sie an der Reihe war, konnte sie nur das Gewöhnliche sagen: „Mir passiert? Eigentlich nichts Besonderes, ich werde mein Jurastudium bald beenden und möchte als Rechtsanwältin in der Hauptstadt arbeiten. Ich unternehme oft Auslandsreisen und … und lebe immer noch allein.“
Die anderen hätten an ihrer Stelle lange über ihre Studien- und Reiseerlebnisse erzählt, sie strich aber nur mit einem diskreten Schmunzeln ihre Haare aus dem Gesicht, wie es auch damals ihre Gewohnheit war, und dachte an die peinliche Situation vor sechs Jahren, die sie seitdem nicht ruhen lässt.
Sie mochte ihren Lehrer, wie auch die Mehrheit in der Klasse. Er war voller Energie, ging auf die Wünsche seiner Schüler ein, brachte Schwung und neue Methoden in den Unterricht. Sie fand es cool, wie begeistert er darauf reagierte, als sie in einem Rollenspiel zufällig statt Marmelade Peckmes sagte, weil es bei ihnen zu Hause so hieß. Von ihrer Oma lernte sie danach noch weitere Wörter, weil es ihr imponierte, dass die anderen diese nicht verstanden haben, aber ihr Lehrer Interesse dafür gezeigt hat. Als hätte sie ein Geheimnis mit ihm gehabt, das sie von den anderen unterscheiden ließ. Das gab ihr eine gewisse Selbstsicherheit, denn daran mangelte es schon immer. Sie war eine von den vielen, die weder durch ihre Leistung noch durch ihr Verhalten aufgefallen sind. Sie bot wenig Einblick in ihre Gefühls- und Gedankenwelt.
„Tes hätt‘ ich grad vun dir nit erwartet!“ Seine Worte trafen sie damals tief ins Herz. Und er sagte es sogar in der Mundart, was er sonst nie in der Stunde getan hat, wenn sie organisatorische Aufgaben besprochen haben. Sie hatte das Gefühl, dass er sie damit noch mehr beschämen wollte. Wie hätte sie es ihm denn damals erklären können, dass es keine billige Lüge war. Dass sie es einfach machen musste, um dabei sein zu können. Sie musste sich eine Lüge einfallen lassen, damit ihre Mutter nichts davon erfährt.
Der Klassensprecher drückte vor dem Abendessen in seiner Ansprache seine Freude über das erste Klassentreffen aus und wünschte allen gute Unterhaltung und die Auffrischung der Erinnerungen. Das tat sie aber auch ohne Aufforderung.
Nachdem der Ober die Bestellungen aufgenommen hatte, fand sie die Gelegenheit günstig und nach einem tiefen Seufzer schoss sie los:
„Mich bedrückt etwas schon seit Jahren, ich hab‘ ein schlechtes Gefühl.“
„Schlechtes Gefühl?“
„Ja, ich möchte was klären.“
„Mit mir? Hab‘ ich was Böses getan?“
„Nein, eigentlich nicht. Mich quält der Gedanke, dass du ein falsches Bild von mir hast.“
„Warum sollte ich denn das haben?“
„Welche Erinnerungen hast du denn an mich?“
„Erinnerungen? Es ist ja schon lange her. Ein solides, stilles Mädchen aus der hinteren Reihe. Lange Haare, leichtes, diskretes Lächeln.“
„Das ist alles?“
„Jaaa, immer zuverlässig und pflichtbewusst.“
„Sonst noch was?“
„Ein bisschen geheimnisvoll, manchmal mit traurigem Blick.“
„Was Besonderes?“
„Hmm. Ja, vielleicht. Magst du noch Peckmes?“
„Ach, ja. Die Marmelade von meiner Oma. Die gibt’s nicht mehr, sie ist vor Jahren gestorben.“
„Tut mir leid.“
„Tes hätt‘ ich grad vun dir nit erwartet!“
„Was denn? Hab‘ ich was Falsches gesagt?“
„Nein, auf keinen Fall. Den Satz hast du damals nach jener peinlichen Situation in der Klassenleiterstunde gesagt. Ich war beschämt wie noch nie in meinem Leben.“
„Ach ja, da war wohl ein kleiner Konflikt. Ich kann mich aber nicht mehr so richtig erinnern. Ein gewöhnlicher Schülerstreich vielleicht, du hast die Schule geschwänzt, nicht wahr?“
„Nein, nein und noch einmal nein! Das war kein Schülerstreich und schon längst nichts Gewöhnliches.“
„Was denn sonst? Du hast mit deiner besten Freundin die Schule geschwänzt.“
„Ja, wir waren in der letzten Stunde nicht dabei, aber das war kein gewöhnliches Schwänzen. Ich brauchte eine Ausrede, sonst hätte ich Peter nicht begleiten können. Ich sagte meiner Mutter, dass ich später nach Hause komme, weil ich mit einigen Mädchen im Namen unserer Klasse dich zu Hause besuche, um zu eurem neugeborenen Baby zu gratulieren.“
„Ah ja, damals ist unser Sohn geboren, ihr seid aber nicht zu Besuch gekommen. Kurz danach war aber Elternabend und deine Mutter bedankte sich für den netten Empfang. Da ich aber von nichts wusste, stellte es sich schnell heraus, dass es sich um ein Missverständnis bzw. eine Lüge handelt.“
„Nein, ich habe nicht einfach gelogen, ich brauchte nur eine Ausrede, um ins Nachbardorf fahren zu können.“
„Mensch, war das aber peinlich für deine Mutter. Sie war im Bewusstsein, dass ihr liebevolles Töchterlein mit seinen Mitschülerinnen bei seinem Klassenlehrer einen Besuch abgestattet hat und da erfährt sie, dass du sie beschwindelt hast.“
„Ja, sicherlich und dann kamst du noch am nächsten Tag mit deinem ‚Tes hätt‘ ich grad vun dir nit erwartet!‘ Da habe ich mir gewünscht, die Erde soll mich verschlingen.“
„Peinlich, peinlich.“
„Ich bin aber keine Lügnerin, ich musste dabei sein, er war meine erste große Liebe … und die einzige.“
„Ach so, was man da nicht alles erfährt, ein kleines Stelldichein im Nachbardorf. Wie romantisch!“
„Nee, überhaupt nicht, es war eine verbotene Liebe. Er holte mich jeden Tag mit seinem Motorrad von der Schule ab, wir drehten eine Runde und dann fuhr er mich nach Hause. Einmal waren wir bei ihm auf seinem Zimmer zusammen. Meine Mutter erfuhr es, sie machte einen großen Skandal und hat mir jegliche Kontakte zu ihm verboten, ich bekam Hausarrest.
An jenem Tag brachte er mich aber trotzdem nach Hause und fuhr sofort zurück, weil es zu regnen begann. Eine Kurve war zu scharf für ihn, er rutschte aus und prallte mit großer Geschwindigkeit an einen Baum. Ja, so ist es geschehen.
Eine Woche darauf wollte ich ihn begleiten. Ja, unbedingt … auf seinem letzten Weg, ich musste einfach bei seinem Begräbnis dabei sein.“
„Oh, es tut mir leid, ich hatte nicht die Absicht, dich zu beleidigen.“
„Ist schon gut, es war für mich wichtig, dass du die Wahrheit erfährst. Es war keine billige Lüge einer naiven Schülerin, die einfach nur mal so die Schule schwänzen wollte. Ich musste von ihm Abschied nehmen.“
„Du hast ihn bis heute nicht loslassen können, nicht wahr?“
„Mag sein, aber vielleicht jetzt.“
2009/2019